Wenn die alten Eltern sterben - Das endgültige Ende der Kindheit

Wenn die alten Eltern sterben - Das endgültige Ende der Kindheit

von: Barbara Dobrick

Verlag Herder GmbH, 2015

ISBN: 9783451802201

Sprache: Deutsch

199 Seiten, Download: 4210 KB

 
Format:  EPUB

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Wenn die alten Eltern sterben - Das endgültige Ende der Kindheit



Alles ist ganz anders


Ich verstand nicht, daß man allen Ernstes um einen Angehörigen, einen alten Verwandten weinen kann, der über 70 Jahre alt ist.

Wenn ich einer 50jährigen Frau begegnete, die verzweifelt war, weil sie eben ihre Mutter verloren hatte, hielt ich sie für neurotisch.

Simone de Beauvoir1

Allen Männern und Frauen, mit denen ich über den Tod ihrer Eltern gesprochen habe, tat sich eine tiefe Kluft auf zwischen ihren Erwartungen und der Wirklichkeit. Sie stellten sich ähnliche Fragen wie Simone de Beauvoir: »Warum hat der Tod meiner Mutter (meines Vaters) mich so heftig erschüttert?«2

Unsere so überaus komplexe seelische Entwicklung war aufs Engste mit dem Dasein der Eltern verbunden. Diese Entwicklung ist auch eine Geschichte der Trennungen gewesen. Mit jedem Schritt hin zu neuen Fähigkeiten hat sich unsere innere Realität verändert und auch der Blick auf die äußere Wirklichkeit; wir haben vorhergehende Entwicklungsstadien hinter uns gelassen. Die damit in den ersten Lebensjahren verbundenen inneren Konflikte erinnern wir höchstens zu einem kleinen Teil. Aus der Erforschung der kindlichen Psyche wissen wir jedoch, dass sich unsere Phantasien mit dem Verlust von Mutter und Vater beschäftigt haben. Kleine Kinder können die Abwesenheit der Eltern mit deren Tod gleichsetzen. Das ist mit existenziellen Ängsten verbunden.

Wenn Kinder sich unverstanden, schlecht behandelt oder vereinnahmt fühlen, werden sie wütend. Dann wünschen sie sich die Eltern »weg«, das heißt tot, um frei zu sein und endlich wie die Kinder in den Märchen allein in die Welt ziehen zu können. Daran erinnern sich auch viele Erwachsene: Sie wollten ohne die Eltern auskommen, groß und unabhängig von deren Ansprüchen, Übergriffen, deren Macht sein. Aber dann auf einmal taucht die Furcht auf, dass solche Wünsche wahr werden könnten, dass man tatsächlich allein und plötzlich gar nicht stark und groß, sondern völlig hilflos und unbeschützt wäre. Das waren Phantasien, unbewusste Phantasien und Träume, die zum seelischen Wachsen gehörten.

Entsetzlich ist es, wenn die Angst vor dauerhafter Trennung der äußeren Realität entspricht, wenn die Beziehung nicht nur durch die Phantasie des Kindes in Frage gestellt ist, sondern durch Vernachlässigung, körperliche oder seelische Krankheit der Eltern oder von außen, durch Krieg oder andere Gewalt tatsächlich bedroht. Wenn man bedenkt, dass die heute 75- bis 90-Jährigen zwischen 1917 und 1932 geboren wurden und auch viele ihrer Kinder Krieg und Flucht oder deren Auswirkungen in den Familien erlebt haben, dann ist klar, wie fragil das Vertrauen in eine sichere Umwelt, in die Belastbarkeit der Eltern gewesen sein muss.

Aber auch wenn die frühen Beziehungen zu den Eltern tragfähig genug waren, um seelisches Wachstum einigermaßen ungestört zu ermöglichen, bleibt die Angst vor Trennungen bei vielen Menschen groß. Das spüren sie in ihren Beziehungen zu ihren Lebensgefährten, ihren Kindern und Freunden.

Viele erwarten jedoch nicht, dass der Tod ihrer alten Eltern sie in Angst und tiefe Trauer versetzen kann. Die Eltern haben ihr Leben gelebt, ihre Kinder sind längst erwachsen, unabhängig von der Lebensgemeinschaft mit ihnen, oft selbst Mütter und Väter. Der Tod der Eltern gilt dann als gewiss trauriges, aber nicht sonderlich belastendes Ereignis. So haben die Söhne und Töchter selbst gedacht, wenn auch nicht unbedingt so ausdrücklich wie Simone de Beauvoir: »›Er ist in dem Alter, wo man stirbt.‹ Das ist die traurige Wahrheit der alten Leute … Auch ich habe in dieser Schablone gedacht, sogar als es um meine Mutter ging.«3

Franziska war nicht beunruhigt gewesen von der Vorstellung, dass ihre Eltern irgendwann nicht mehr leben würden. Tatsächlich aber hat deren Tod sie in eine Lebenskrise geworfen. Zuvor waren ihre Gedanken in eine andere Richtung gegangen: »Mich hat die Frage beschäftigt, was ist, wenn meine Eltern pflegebedürftig werden. Ich hatte ein sehr zwiespältiges Verhältnis zu ihnen, besonders zu meiner Mutter. Für mich stand deshalb immer die Frage im Vordergrund: Um wen mag ich mich kümmern, mag ich mich überhaupt um sie kümmern; würde ich sie zu mir holen? Ich habe immer gemeint, bevor jemand stirbt, ist er alleine nicht mehr lebensfähig, und ich als Tochter müsste mich entscheiden, ob ich sie als Greise um mich haben will oder nicht.«

Brunos Vater war längere Zeit krank, bevor er mit 78 Jahren starb. Bruno ist Arzt und hat die schwere Krankheit seines Vaters genau gekannt. »Ich habe mir häufiger überlegt, wie er wohl sterben würde, und auch versucht, mir vorzustellen, wie ich damit fertig würde. Ich hatte mir die Umstände seines Todes ähnlich vorgestellt, wie sie dann auch waren, nämlich als akutes Ereignis. Ich dachte, ich würde am ehesten mit einer gewissen Erleichterung darauf reagieren, weil es das Ende seiner Krankheit und seines Leidens sein würde. In Wirklichkeit war es ganz anders. Ich war völlig fassungslos und sehr traurig.«

In Büchern, die die Situation von Sterbenden und Trauernden zum Thema haben, wurde dem »Alterstod« der Eltern lange höchstens am Rande Beachtung geschenkt. Und auch dadurch, dass kaum über die Bedeutung gesprochen wird, die der Tod von Vater und Mutter haben kann, ist es schwer, eine einigermaßen realistische Erwartung zu entwickeln.

Trauer kann nicht vorweggenommen, ein schmerzliches Erlebnis nicht wirklich antizipiert werden. Aber es ist ein großer Unterschied, ob jemand sagt: Es ist schlimmer, als ich gedacht hatte, oder ob es heißt: Ich hätte nicht gedacht, dass es schlimm sein würde. Die meisten sind schlecht, gar nicht oder falsch vorbereitet auf den Abschied von den Eltern. Auch deshalb ist die Gefahr groß, dass sich Söhne und Töchter ihre Gefühle nicht zugestehen oder ihnen nicht trauen. Wer sich seiner Trauergefühle schämt, weil er eben nicht als »neurotisch« gelten möchte, läuft Gefahr, sie zu verschweigen, vielleicht sogar vor sich selbst.

Trauernde haben es immer noch schwer in unserer Gesellschaft, die die Trauer lange verpönt, zu reglementieren oder auszuschließen versucht hat. Inzwischen gibt es auf vielen Ebenen Bemühungen, dies zu ändern. Ein neues Bewusstsein ist entstanden, vor allem durch die Hospizbewegung, die zu einer breiten Bürgerbewegung geworden ist und deren Hilfe Sterbende und ihre Angehörigen überall in Deutschland in Anspruch nehmen können.4 Aber auch Veröffentlichungen und Debatten auf anderen Ebenen haben zu einer größeren Offenheit geführt. Dennoch bleibt auch der Wunsch wirksam, Krankheit und Sterben mögen unauffällig und abgeschirmt bleiben, und Angehörige erleben, dass sie gemieden werden, weil andere sich durch ihre Trauer verunsichert fühlen, nichts hören wollen von Krankheit, Tod und Trauer. Verdrängung und Verleugnung der Trauer haben zwar nachgelassen, führten aber weiterhin zu unrealistischen Erwartungen über deren Gewicht und Tiefe. Gerade was den Tod alter Eltern anlangt, fällt das auf.

Joachim hat seine Eltern vor 15 Jahren verloren. Sie starben beide innerhalb eines Vierteljahres. Er war damals 45 Jahre alt. »Ich habe zwar gewusst, dass das ein Schmerz ist, aber dass es so viel Zeit braucht, bis er abklingt, habe ich nicht für möglich gehalten.«

Intensität und Dauer ihrer Trauer waren für Franziska, Bruno und Joachim völlig überraschend. Gustav hat eine ähnliche Erfahrung gemacht. Seine Mutter war sehr lange krank gewesen, und er hatte sich allmählich auf ihren Tod eingestellt. »Die Vorstellung, ich könnte den Tod meiner Mutter einfach so verschmerzen, auch weil ich durch diese Krankheitsperiode darauf vorbereitet war, stimmte nicht. Es hat sich gezeigt, dass es etwas völlig anderes ist, sich gedanklich darauf vorzubereiten, als die Tatsache des eingetretenen Todes zu verarbeiten. Dieser Unterschied hat mich in meinem Verständnis von mir selbst voll getroffen.«

Sabine war 40 Jahre alt, als erst ihr Vater, bald darauf auch ihre Mutter starb. »Für mich als reflektierender Mensch war dann die enge Verbindung, die Liebe zwischen Eltern und Kind, besonders zwischen Mutter und Kindern plötzlich fragwürdig geworden, weil sie zu solchen Schmerzen führt. Ich habe mich gefragt: Was bringt mir die Liebe einer Mutter, wenn ich hinterher so leiden muss? Das hat mich aus der Bahn geworfen und zweifeln lassen an diesem Konstrukt Mutter-Kind.«

Was viele am wenigsten erwarten, ist: Der Tod der Eltern kann das Selbstverständnis erschüttern, die Person verändern. Es ist nicht nur möglich, dass Söhne und Töchter ratlos und bedrückt erkennen, wie sehr sie noch an die Eltern gebunden waren, wie heftig ihre Trauergefühle sind. Es kann auch so sein, dass der Tod der Eltern in der Vorstellung nur Schrecken und Entsetzen auslöste, in Wirklichkeit aber zu größerer Unabhängigkeit und neuem Lebensmut führt.

Beate, die allein lebt und sich ganz auf ihren Beruf konzentriert – sie ist Kauffrau –, hatte eine sehr enge Bindung an ihre Mutter, die vor sechs Jahren völlig unerwartet starb. Beate war damals 32 Jahre alt. »Ich wusste zwar, irgendwann wird das mal kommen. Ich habe gedacht, ich wäre todunglücklich und könnte das Leben gar nicht mehr meistern, oder ich würde mich irgendwo wie ein hässliches Entlein in einer Ecke verstecken und nur in Trauer an meine Mutter denken. Dass ich so eine Wahnsinnsentwicklung durchmachen und mich jemals so frei fühlen würde wie jetzt, das habe ich mir nie vorstellen können.«

Eva war 40 Jahre alt, als ihre Mutter starb. Sie ist eine besonders schöne, sehr lebhafte Frau. Ihre strahlende Erscheinung...

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