Wie ich es will - 10 Entscheidungen, die jeder vor dem Lebensende treffen sollte

Wie ich es will - 10 Entscheidungen, die jeder vor dem Lebensende treffen sollte

von: Barbara Brüning, Laura Brüning, Hans-Udo Zenneck

Beltz, 2015

ISBN: 9783407222626

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 3059 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Wie ich es will - 10 Entscheidungen, die jeder vor dem Lebensende treffen sollte



2.

Dürfen Ärzte mein Leben verlängern?


Das Bett stand wieder an der früheren Stelle, mitten im Zimmer, mit dem Kopfende zur Wand. Auf der linken Seite, mit Mamas Arm verbunden, stand ein Infusionsapparat. Aus ihrer Nase führte ein durchsichtiger Plastikschlauch, der über komplizierte Apparaturen in ein Gefäß mündete. Ihre Nasenflügel waren eingefallen, ihr Gesicht war weiter zusammengeschrumpft; es drückte verzweifelte Ergebenheit aus. (…) »Soll das vielleicht in ihrem Magen bleiben?«, fragte N. aggressiv und zeigte auf das Glasgefäß, das mit einer gelblichen Masse gefüllt war. Ich antwortete nichts. Auf dem Flur erklärte er: »Am frühen Morgen hatte sie keine vier Stunden mehr zu leben. Ich habe sie wieder zum Leben erweckt.« Ich wagte nicht ihn zu fragen: warum?

Simone de Beauvoir, 1908–1986

Von einer Sekunde auf die nächste


Am 29. Dezember 2013 erlitt der ehemalige Formel-1-Rennfahrer Michael Schumacher bei einem Skiunfall ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Meist kommt es als erste Reaktion zu einem Anschwellen des Hirns, welches sich damit in der Schädelhöhle selbst unter Druck setzt, sodass eine Zerstörung der Nervenzellen droht. Bei Schumacher gab es außerdem Prellungen und Quetschungen des Gehirns sowie Einblutungen in den Schädel, die ebenfalls zu einer Bedrängung des Hirns führten.

Die heute übliche Behandlung wurde umgehend eingeleitet. Michael Schumacher wurde in ein künstliches Koma, d. h. einen steuerbaren Zustand der Bewusstlosigkeit, versetzt, erhielt also eine Art von Dauernarkose, wurde künstlich beatmet und ernährt. Die Ärzte taten alles technisch Mögliche in Übereinstimmung mit dem Willen der Familie und mutmaßlich auch dem Willen Michael Schumachers, um sein Leben zu retten und ihn physisch und mental zu stabilisieren.

Am 16. Juni 2014 wurde der Presse mitgeteilt, dass Michael Schumacher aus dem Koma erweckt worden sei und die Klinik verlassen habe, um eine Rehabilitationsbehandlung zu beginnen. Einige Monate später kehrte er in sein Zuhause zurück, wo ein Team von Ärzten, Pflegekräften und Therapeuten seine Rehabilitation unterstützt.

Es ist nicht bekannt, ob Michael Schumacher eine Patientenverfügung hatte. Das professionelle Vorgehen und die Einigkeit, welche sowohl die Managerin als auch die Familie in der Situation erkennen ließen, lässt aber darauf schließen, dass die Beteiligten über Willen und Wünsche unterrichtet waren. Es ist kaum denkbar, dass jemand, der beruflich immer wieder an Grenzen sowohl technischer wie auch persönlicher Art geht, der umgangssprachlich »voll am Limit« lebt, nicht nachdenkt über Unfälle und den möglichen eigenen Tod. Aber dafür muss man kein Extremsportler sein.

Von einer Sekunde auf die nächste war der einsame Beherrscher modernster Technik angewiesen auf Ärzte und Apparate. Viele Menschen schockierte das vermutlich auch deshalb, weil es Michael Schumacher nicht auf der Rennstrecke getroffen hatte, sondern in seiner Freizeit, was deutlich machte, wie fragil jeder von uns ist.

Ein ganz anderes Schicksal hatte der britische Bauingenieur Tony Nicklinson, der nach einem Schlaganfall ebenfalls einen Hirnschaden erlitt, der zu einem Locked-in-Syndrom führte. In diesem Zustand ist ein Mensch zwar bei Bewusstsein, jedoch körperlich fast vollständig gelähmt und somit nicht in der Lage, sich sprachlich oder durch Bewegungen verständlich zu machen. Der Hörsinn ist völlig intakt. Nur Fragen auf Ja oder Nein können manche Erkrankte durch Augenbewegungen oder Augenzwinkern beantworten.

Auch Tony Nicklinson war nach Überleben des akuten Ereignisses auf technische Hilfen zum Weiterleben angewiesen, besonders auf eine künstliche Ernährung mittels Sonde. Nach Aussagen seiner Tochter war aus einem »lauten, aktiven Ex-Rugbyspieler« ein bloßer »Jemand« geworden, »an den Rollstuhl gefesselt, der den ganzen Tag auf den Fernseher starrte«.

Ein Zustand, den Nicklinson unerträglich fand und den er durch konsequente Nahrungs- und Flüssigkeitsverweigerung am 20. August 2012 selbst beendete. Gerichte hatten seine Anträge auf Einstellung der künstlichen Ernährung abgewiesen.

Fangnetz für das Leben


Auf den ersten Blick haben wir es mit zwei ganz unterschiedlichen Fällen zu tun: Michael Schumacher kämpft mit Unterstützung von Familie, Ärzten, Pflegefachkräften und Physiotherapeuten um seine Genesung. Tony Nicklinson wendet sich gegen eine Fortführung von Pflegemaßnahmen und Gerichtsbeschlüsse. Bei näherer Betrachtung handelt es sich in beiden Fällen um überaus starke Charaktere, die entschlossen sind, alles zu tun, um ihren ganz persönlichen Weg zu gehen. Beide setzen sich zur Wehr, kämpfen für die Durchsetzung ihrer persönlichen Ziele. Der eine für ein Weiterleben mit möglichst geringen Einschränkungen, der andere für ein Sterben nach den eigenen Vorstellungen.

Es ist faszinierend, wie aufgrund verbesserter technischer Möglichkeiten sowohl der Diagnostik als auch der Therapie erhebliche Zugewinne an Lebensqualität und Lebensdauer erzielt werden. Die meisten Menschen akzeptieren dies oder sehen es positiv. In Gesprächen mit Freunden bekam ich Folgendes zu hören:

»Ich freue mich jeden Tag, dass das Leben meines Sohnes wegen der Apparate gerettet werden konnte – die Intensivstation, die Notoperation, alles wäre ohne Apparate nicht möglich gewesen. Auch beim Herzinfarkt meines Vaters bin ich dankbar, dass es Apparate gibt, die ihn vor dem Tod bewahrt haben. Mir vorzustellen, dass mein eigener Herzschlag durch einen Apparat gesteuert wird, damit ich leben kann, macht mir keine Angst. Mag sein, dass, wenn ich so etwas selbst einmal erleben müsste, ich anders darüber denke, im Moment empfinde ich es als Fangnetz fürs Leben.«

Laut Untersuchungen der Augsburger Universität sind 76 Prozent von rund 1.400 Befragten der Auffassung, dass der Einsatz von Apparatemedizin ein Qualitätsmerkmal für gute ärztliche Versorgung ist. Allerdings fordern sie gleichzeitig eine verbesserte Information darüber, was mit ihnen geschieht. 60 Prozent möchten wissen, welche Belastungen zum Beispiel mit dem Einsatz von Apparaten verbunden sind und welche therapeutischen Konsequenzen daraus erwachsen.

Viele Menschen sind also nicht bereit, die »Segnungen« der Medizin ungefragt oder besser unhinterfragt zu akzeptieren, sondern wollen wissen, was auf sie zukommt, um sich entscheiden zu können. Das Schlagwort vom »mündigen Patienten« illustriert dies. Mit Unterstützung der Krankenkassen wird zum Beispiel vor Operationen zunehmend eine zweite Meinung eingeholt, um einzugrenzen, ob der Vorschlag zur Operation eher der Umsatzsteigerung des Krankenhauses dient oder ob es sich um einen notwendigen Eingriff handelt.

Apparate überall


Der Begriff der »Apparatemedizin« ist auch Metapher für ein unklares Unbehagen gegenüber den technischen Möglichkeiten der Medizin, welche als bedrohlich empfunden werden, weil sie zunehmend weniger Handlungsmöglichkeiten lassen. Besonders der Aspekt des Überlebens in Abhängigkeit von Maschinen spielt dabei eine Rolle und die Angst, damit nicht endendem Leiden ausgesetzt zu werden.

Dies erstaunt, wenn man erfährt, wie selbstverständlich Menschen Eingriffe an sich vornehmen lassen, die keinerlei medizinische Notwendigkeit haben, wie der wachsende Markt der »Schönheitsoperationen« zeigt. Und wenn man sich vergegenwärtigt, wie euphorisch hochkomplexe technische Geräte begrüßt werden, die sich immer fester in unserem Alltag etablieren.

So vertrauen Menschen zunehmend den Informationen von Smartphone-Apps und Navigationsgeräten und fühlen sich unsicher, sobald ihnen diese technische Unterstützung fehlt. Der Verlust oder die Fehlfunktion von Smartphones kann Jugendliche in regelrechte Krisen stürzen. Immer neue technische Möglichkeiten, besonders im Bereich Kommunikation und Unterhaltung, befördern seit Jahren einen entsprechenden Kaufrausch.

Im Bereich Mobilität ist das Vertrauen in Technik besonders ausgeprägt. Autos sind mittlerweile mit Funktionen ausgerüstet, die nur Fachleute wirklich verstehen. Sie laufen weitgehend im Hintergrund und führen dazu,...

Kategorien

Service

Info/Kontakt