Vermessene Zeiten - Meine Erinnerungen

Vermessene Zeiten - Meine Erinnerungen

von: Georg Kreis

Zytglogge Verlag, 2018

ISBN: 9783729622500

Sprache: Deutsch

336 Seiten, Download: 7661 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Vermessene Zeiten - Meine Erinnerungen



2. Studentenleben

Mein Studium begann ich im Vergleich zu meinen Jahrgängern mit Verspätung, weil ich während meiner anfänglich katastrophalen Schulzeit zwei sogenannte Übergangsjahre einschalten und weil ich zuerst während dreier Jahre als Primarlehrer das nötige Geld für das Studium verdienen musste.

Abgesehen von einem wohl persönlichkeitsbedingten Hang zu Effizienz und zu Leistung sorgte dieser Rückstand dafür, dass in mir eine ‹Gehetztheit› aufkam, die für den Rest meines Lebens anhielt. Im Vergleich zu meinen früher gestarteten Altersgenossen schloss ich etwa gleichzeitig ab. Nach meiner Rückkehr nach Basel 1964 (nach Abschluss meiner Schierser Internatszeit) und neben meiner vollen Berufstätigkeit als Primarlehrer belegte ich sogleich einzelne Uni-Vorlesungen wie ‹Philosophie des Bösen› oder ‹Soziologische Grundlagen psychischer Erkrankungen› etc. Offiziell begann ich mein Studium im Frühjahr 1967 und beendete es im Dezember 1972 mit dem Doktordiplom.

Warum war das ein Geschichts- und Deutschstudium? Wenn ich das wüsste! Natürlich haben mich diese Fächer angesprochen, und dies bereits in der Schulzeit. Vielleicht spielte mit, dass man da relativ schnell auf einen ‹grünen Zweig› kam.

Das Studium war insofern nie ein Vollzeitstudium, als ich auch während der Zeit an der Uni dem Erwerbsleben nachging, mit Lehrervertretungen auf der Mittelstufe und anschliessend als Professoren-Hilfskraft von Werner Kaegi bis 1971, dann 1972 als Forschungsassistent von Markus Mattmüller parallel zu den Schlussarbeiten an meiner Dissertation. Viel Zeit nahm aber auch die Studentenpolitik in Anspruch (vgl. Kap. 3). Ein ganzes Studium war damals in zwölf Semestern möglich. Dazwischen kam noch ein Mittellehrerdiplom, das ich erneut (wie schon den Primarlehrer) zur Absicherung meiner Erwerbsmöglichkeiten machte. Eigentlich wollte ich direkt ein Oberlehrerdiplom erwerben. Dies um mich auf zwei Fächer (Geschichte und Germanistik) beschränken zu können. Ein nahestehender Verwandter attestierte mir aber, dass ich für den Oberlehrer zu dumm sei. So absolvierte ich zunächst eben das Mittellehrerprogramm mit drei Fächern (das dritte war Geografie) und machte den Oberlehrer erst nach dem Doktorat. Die Dissertation, obwohl mit längeren Archivaufenthalten vor allem in Bern, aber auch in Bonn verbunden, habe ich ohne Stipendien erarbeitet. Gerne wäre ich schon während meines Studiums für ein, zwei Semester ins Ausland gegangen, konnte mir dies aber nicht leisten. Dies holte ich dann in der ‹Postdoc›-Phase vor allem mit Paris und Cambridge nach (stets mit der ganzen Familie).

Zum Studienbetrieb ist nicht viel zu sagen, das war ja für alle in etwa das Gleiche: Vorlesungen und Seminare. Die meisten Vorlesungen waren tatsächlich Vorlesungen, man schrieb eifrig mit, belegte in gewissen Fällen nach vier Semestern, wenn der angebotene Zyklus wieder einsetzte, nochmals die meistens wörtlich gleichen Darbietungen, um seine Notizen zu perfektionieren. Die Seminare verliefen in verhörähnlichen Dialogen zwischen einzelnen ‹Opfern›, die mit ihrer Arbeit gerade an der Reihe waren, und dem vorsitzenden Professor, der seinen vorbereiteten Fragekatalog abarbeitete, dies in stummer Anwesenheit des grossen Rests. In späteren Zeiten ging die Leitung der Seminarsitzungen (insbesondere bei Mattmüller) an die Oberassistenten über, der Lehrstuhlinhaber gab sozusagen als Beisitzer zusätzliche Kommentare zum Besten, und die Beteiligung der Studierenden war lebendiger. Mattmüller war der fortschrittlichste Professor. Die ebenfalls fortschrittlich-sein-wollenden Studenten der 68er beanstandeten aber am stärksten seine Lehrveranstaltungen und nicht diejenigen, die jenseits von Gut und Böse waren.

Markus Mattmüller, der 1969 Ordinarius geworden war und für sich die französischen Historikerschule der ‹Annales› entdeckt hatte, war auch im Unterricht innovativ: Er führte so etwas wie eine informelle Doktorandenschule ein (ein Graduiertenkolleg, avant la lettre), dazu gehörten Leute, die alle bereit waren, etwa das Gleiche zu machen, Bevölkerungs- und Ernährungsgeschichte, jeder bearbeitete da eine Region mit etwa den gleichen Fragestellungen, hier konnte man sich austauschen und war kein Einzelkämpfer. Ich gehörte hingegen zu den ‹Einsamen›, die in einem Spezialgebiet (in meinem Falle die schweizerische Pressepolitik 1933–1945) alleine ein dickes Brett bohrten.

Das Geschichtsstudium zerfiel in eine ältere und eine jüngere Abteilung. Die ältere hätte eine solidere und klassischere Ausbildung vorausgesetzt, als ich sie hatte, ich hatte auch Mühe mit dem Latein und lieferte eine schwache Seminararbeit ab, erhielt dann später aber erstaunlicherweise vom verantwortlichen Ordinarius Werner Kaegi doch eine Assistentenstelle. Erfolgreicher war ich in der neueren Abteilung, in der bis zum Sommer 1968 Edgar Bonjour der hauptverantwortliche Ordinarius war. Kaegi galt als besonders anspruchsvoll und hatte darum wenig Doktoranden (vielleicht ein Dutzend, von denen er einmal stolz sagte, dass sie alle Professoren geworden seien). Bonjour war weniger streng und hatte so viele Doktoranden (etwa 80 im Laufe der Zeit), dass ihm bei seinem 70. Geburtstag zum Spass vorgeworfen werden konnte, den Überblick verloren zu haben. Damit man den Spass versteht, muss erklärt werden, dass der darin erwähnte Charlie einer der ersten Hilfsassistenten war, die es gab, eher ein Famulus aus Dr. Faustus, und dass Dutschke, sofern das heute erklärt werden muss, die bekannteste Leitfigur des deutschen Studentenprotests war. Die Schnitzelbangg schloss, nachdem von einer allgemeinen Aufregung die Rede gewesen war: «Nur der Bonjour fragt ganz ahnungslos: Dihr Charlie, säget Ihr, i ghör öppe von däm Dutschke – isch das e Doktorand vo mir

Bei Bonjour reichte ich schon im September 1967, also im zweiten Semester, meine Seminararbeit über die schweizerische Pressepolitik 1933–1939 ein, was ‹in a nutshell› das war, woraus ich später meine Dissertation machte. Bonjours Seminare waren so gross, dass er sie doppelt führte, was zur Folge hatte, dass ich zweimal aus meiner Arbeit vorlesen durfte. Das eingereichte Exemplar hat mir Bonjour lange Zeit später als «Dokument aus Ihren wissenschaftlichen Lehrjahren» zurückgegeben. Ich hätte es wieder lesen können, sah aber davon ab, weil ich fürchtete, auf Formulierungen zu stossen, die mir heute – hoffentlich – besser gelingen würden.

Bei Bonjour konnte ich nicht mehr doktorieren, weil er im Sommer 1968 altershalber zurücktrat. Aber ich war in regelmässigen Abständen bei ihm ‹zum Tee› und führte anregende Generationengespräche mit ihm bis zu seinem Tod im Mai 1991. Aus diesen Gesprächen nur ein Müsterchen: Bonjour erzählte mir, wie er mit Oscar Germann an der Bushaltestelle stand. Germann war ein eminenter Strafrechtsprofessor mit mindestens drei Ehrendoktor-Titeln und Oberst im Generalstab. Er nahm nicht zu Unrecht für sich in Anspruch, 1940 das Reduit-Konzept ausgearbeitet und, wie mir Bonjour berichtete, dabei eine wesentliche historische Rolle gespielt zu haben.

Schüler und Lehrer: Edgar Bonjour lässt sich im Frühjahr 1991 die in der Mustermesse im Rahmen des Programms ‹CH 91› gezeigte Ausstellung ‹Die Schweiz unterwegs› (seit 1943) erläutern. (Foto: persönliche Dokumentation)

Bonjour, der damals gerade am Neutralitätsbericht zu dieser Zeit arbeitete, erklärte, wie gesagt beim Warten auf den Bus, in nicht untypischer selbstbewusster Ironie, nicht er, Germann, sondern er, Bonjour ‹mache› die Geschichte.

Zufall als Glücksfall

Für mich war es ein Glücksfall, dass Herbert Lüthy 1971 von der ETH/ZH nach Basel berufen wurde und dass er sich für meine ganz in Eigenregie verfasste Doktorarbeit interessierte und diese dann auch abnahm. Bei Kaegi war ich Assistent, bei Bonjour so etwas wie ein Hausfreund, bei Mattmüller Mitarbeiter, bei Lüthy Habilitand. Es ergab sich, war vielleicht auch typisch, dass ich keinem mit der Formel ‹Schüler von› richtig zuzuordnen war, weil ich wirklich Schüler von allen war. Hätte ich mich für einen entscheiden müssen, wäre es wohl Lüthy gewesen. Lüthy hatte mir 1972 ein brillantes Nachwort zu meiner ersten Publikation geschrieben, 1974 «mit aller Wärme» meine Bewerbung um ein Stipendium für einen fortgeschrittenen Forscher unterstützt (vgl. Kap. 8) und, auch dies darf erwähnt werden, 1975 eine an ihn gerichtete Anfrage für einen 1.-August-Artikel an mich weitergereicht.13

Meine Assistentenarbeit bei Kaegi beschränkte sich darauf, mal eine Chronologie etwa zum Basler Konzil zusammenzustellen, bestimmte Bücher herauszusuchen, eine Mikrogeschichte zum Münchensteiner Eisenbahnunglück von...

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