Die guten alten Zeiten - Warum Nostalgie uns glücklich macht

Die guten alten Zeiten - Warum Nostalgie uns glücklich macht

von: Daniel Rettig

dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, 2013

ISBN: 9783423420013

Sprache: Deutsch

260 Seiten, Download: 2037 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die guten alten Zeiten - Warum Nostalgie uns glücklich macht



HOFERS PATIENTEN


Eine Doktorarbeit in Basel

1688 war Basel ein überschaubares Örtchen. Die Stadt hatte die Pestepidemien der vergangenen Jahrhunderte recht gut überstanden, zwanzig Jahre zuvor war die tödliche Krankheit zuletzt ausgebrochen. Etwa 13 000 Menschen lebten damals in Basel, und es wurden stetig mehr. Nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs 1648 fanden hier viele Flüchtlinge eine neue Heimat, wirtschaftlich ging es aufwärts, äußerlich entwickelte sich die Stadt langsam. Im Zentrum stand seit 1500 das Basler Münster, eine prächtige Kathedrale aus rotem Sandstein und bunten Ziegeln. Von dort waren es nur wenige Meter bis zum Rhein, der sich seinen Weg durch die Stadt bahnte. Der Fluss machte Basel zu einem wichtigen Knotenpunkt für den Handel zwischen Nord- und Südeuropa, außerdem konnten sich die Menschen darin im Sommer abkühlen. Gerne trafen sie sich an den Brunnen oder auf dem Marktplatz. Reisende waren durchaus angetan von der Stadt. Der Schriftsteller Karl Gottlob Küttner schrieb später einem Bekannten: »Lieber Freund! Es sind herrliche Augenblicke, die man auf einer Rheinbrücke im Mondscheine verbringen kann.«

Doch die Menschen kamen nicht nur, um zu arbeiten, zu schwimmen oder sich zu unterhalten. 1660 hatte die örtliche Universität – die älteste der Schweiz – bereits ihr 200. Jubiläum gefeiert. Mittlerweile waren dort 18 Professoren für etwa 150 angehende Akademiker zuständig. Ein überschaubares Verhältnis, das das Studentenleben eigentlich angenehm gestaltete. Uneigentlich ging es besonders einem Studenten schlecht, sehr schlecht sogar. Das lag nicht mal daran, dass nächtliche Spaziergänge ebenso verboten waren wie tanzen und dass als einzige Hobbys Kartenspiele oder der sonntägliche Kirchgang blieben. Sondern vor allem daran, dass Basel nicht Bern war.

Die Städte liegen etwa 100 Kilometer voneinander entfernt. Wer heutzutage mit dem Auto gut durchkommt, braucht für die Fahrt etwa 60 Minuten. Mit dem Zug geht es etwas schneller, pro Stunde gibt es zwei Direktverbindungen, die Fahrt kostet umgerechnet gut 15 Euro. Inzwischen wäre es kein Problem mehr, zwischen Basel und Bern zu pendeln oder zumindest übers Wochenende heimzufahren. Doch im 17. Jahrhundert war Pendeln nicht üblich. Der Fußmarsch hätte etwa 20 Stunden gedauert, die Kutschfahrt einen halben Tag. Der Student konnte also nicht einfach mal schnell nach Hause. Das hinterließ Spuren. Zuerst seelische, dann körperliche.

Seine Kindheit hatte der Student in Bern verbracht, und der Umzug fürs Studium war ihm nicht bekommen. Schon seit Längerem war er ständig traurig und hatte schlechte Laune. Er fühlte sich in der neuen Heimat unwohl. Damit ließe sich noch leben, doch sein Zustand verschlimmerte sich von Tag zu Tag. Er bekam Fieber, zuerst nur leichtes, dann hohes, und wurde immer schwächer. So schwach, dass seine Angehörigen schon anfingen für ihn zu beten – aus Angst, dass er bald sterben könne. Doch der Student blieb am Leben, und das hatte er vor allem seinem Arzt zu verdanken. Der erkannte glücklicherweise, dass der junge Mann an einer äußerst tückischen Krankheit litt, und die erlaubte nur eine Therapie: die sofortige Rückkehr nach Hause.

Das Gegenmittel wirkte sofort.

Im einen Moment noch sterbenskrank, konnte der Student plötzlich wieder frei durchatmen, als er von der bevorstehenden Rückkehr erfuhr. Er beantwortete Fragen schneller, war klarer im Kopf und wesentlich entspannter. Er war nur noch wenige Kilometer von der Heimat entfernt, da verschwanden die Symptome plötzlich. Als er sein geliebtes Bern schließlich erreichte, war er wieder gesund und munter.

Den seltsamen Fall des jungen Studenten schilderte der angehende Mediziner Johannes Hofer in seiner Dissertation 1688. Als er die Arbeit schrieb, war Hofer gerade mal 19 Jahre alt. Die Doktorarbeit besticht mit einem Umfang von 20 Seiten nicht nur durch eine (für heutige Verhältnisse) akademisch untypische Kürze, sondern auch durch eine originelle Argumentation.

Hofer schilderte darin drei anonyme Krankheitsfälle, von denen ihm jemand erzählt hatte – »ein Mann von höchster Glaubwürdigkeit«, wie er betonte. Doch den Namen des mysteriösen Kronzeugen behielt er für sich. Vielleicht ahnte Hofer die Skepsis seines Doktorvaters Johann Jakob Harder. Dennoch ließ er sich von der dürftigen Quellenlage nicht beirren. Die seltsame Krankheit war ihm zu wichtig. Eine junge Bäuerin vom Lande war ebenfalls von ihr befallen.

Das Mädchen hatte sich bei einem schweren Sturz lebensgefährlich verletzt und wurde daraufhin in ein Krankenhaus gebracht. »Dort lag sie tagelang auf dem Bauch, bewusst- und regungslos«, wusste Hofer zu berichten. Sie erhielt Medikamente, wurde operiert und kam langsam wieder zu sich. Doch da bemerkte sie, dass sie von alten und missmutigen Frauen behandelt wurde – und plötzlich überkam sie die tückische Krankheit. Sie spuckte das Essen aus, genauso wie die Medizin, die sie doch so dringend benötigte. Von nun an sagte sie nur noch einen Satz, egal ob und was sie gefragt wurde: »Ich will heim.« Irgendwann ertrugen ihre Eltern es nicht mehr und gestatteten, dass sie nach Hause gebracht wurde, obwohl sie noch schrecklich schwach war. Innerhalb weniger Tage war sie vollkommen genesen – ohne weitere Therapie.

Ähnlich wundersam verlief die Heilung von Hofers drittem Kronzeugen. Der junge Schweizer arbeitete als Diener in Paris. Doch da er von Tag zu Tag trauriger und melancholischer wurde, bat er um vorzeitige Entlassung. Glücklicherweise hatte er einen äußerst verständnisvollen Herrn, der die Bitte sofort akzeptierte. Plötzlich war der Diener wie ausgetauscht. Allein die Möglichkeit, nach Hause zurückzukehren, hatte ihn geheilt.

Johannes Hofer war fasziniert von diesen drei Fällen, die ihm seine Quelle verraten hatte. Aber noch mehr faszinierte ihn, dass es bislang keinen medizinischen Namen für diese Krankheit gab, und das wollte er unbedingt ändern. Das Wort Heimweh lehnte er ab, da es ihm nicht passend erschien – und seine Medizinerkollegen vermutlich nicht sonderlich beeindruckt hätte. Es musste ein Wort her, das gebildet klang und seinen Schöpfer als kreativen Kopf dastehen ließ. Am besten eines, das seinen Ursprung in einer alten, fremden Sprache hatte. Beim Nachdenken fand Johannes Hofer ein solches Wort. Seiner Meinung nach litten der Student in Basel, die Bäuerin vom Lande und der Diener in Paris an Nostalgie.

* * *

Heute ist die Schweiz bekannt für Uhren, Banken, Schokolade – und für Roger Federer, einen der besten und vor allem elegantesten Tennisspieler aller Zeiten. Damals waren die Schweizer berühmt für ein ganz anderes Metier: Menschen zu töten. Zu der Zeit verdienten viele Schweizer ihren Lebensunterhalt als Reisläufer. Mit dem Getreide hat das nichts zu tun, sondern mit dem mittelhochdeutschen Wort Reis, was so viel heißt wie aufbrechen oder fortbewegen. Reisläufer waren jene Männer, die für andere Nationen in den Krieg zogen. Gegen Bezahlung.

Bereits die Armeen des Altertums bestanden aus Söldnern aus verschiedenen Ländern. Doch ab dem 15. Jahrhundert heuerten Herrscher aus ganz Europa vor allem jene aus der Schweiz an. Manchmal waren es nur eine Handvoll Männer, manchmal ganze Kompanien. Manchmal wurden sie lediglich für einige Wochen oder Monate angeworben, manchmal für mehrere Jahre. Sie dienten Kaisern und Königen in Spanien, England, Polen und Österreich, ab 1506 bildeten sie als Schweizergarde die Leibwache des Papstes. Der Grund: Die Schweizer galten als tapfer, zuverlässig und unbesiegbar. Aus diesem Image machte das geschäftstüchtige Völkchen einen Wirtschaftszweig. Es gab militärische Zwischenhändler, die den Herrschern Söldner gegen Bezahlung besorgten. Sogar die Kantone selbst stiegen in die Vermittlung ein – gegen Gewinnbeteiligung, versteht sich. Das Geschäft war ziemlich einträglich, denn an kriegerischen Konflikten war Europa damals nicht gerade arm. Manche Wissenschaftler gehen davon aus, dass zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert bis zu zwei Millionen Schweizer in der Fremde kämpften.

Als Hofer seine Dissertation schrieb, dienten knapp 70 000 Schweizer im Ausland. Dort riskierten sie nicht nur ihre körperliche Unversehrtheit, sondern auch ihre seelische. »Die Betroffenen sind vor allem Jugendliche, die in fremde Regionen entsandt werden«, schrieb Hofer. Besonders jene, die sich nicht an andere Menschen und Sitten gewöhnen könnten. Ständig erinnerten sie sich an ihre herrliche Heimat, ständig träumten sie von der Rückkehr. Hofer: »Bleibt ihnen das verwehrt, fallen sie der Krankheit Stück für Stück anheim.« Die Schweizer hielt er für besonders anfällig.

Das Land war klein, die Menschen lebten in Dörfern von Kindheit an eng beieinander, das Gemeinschaftsgefühl war ausgeprägt – und plötzlich kämpften sie Seite an Seite mit Soldaten aus anderen Nationen. Weit entfernt von schneebedeckten Gipfeln, grünen Wiesen und klaren Bergseen, von frischer Milch und der mütterlichen Fürsorge. Da kann man schon mal an Nostalgie erkranken.

Zum Glück war der Krankheitsverlauf für Hofer ziemlich offensichtlich und selbst für medizinische Laien gut erkennbar. Zunächst seien die Betroffenen ständig traurig, lehnten fremde Bräuche ab und hätten weder Freude an Witzen noch Lust auf Gespräche mit Fremden. Stattdessen dächten sie ständig an ihre Heimat, die sie maßlos verherrlichten. Besonders heikel sei es, wenn sich die Patienten zusammentäten, um über ihre Krankheit zu sprechen. Weitere Symptome seien Schlaflosigkeit, häufiges Seufzen sowie fehlender Durst und Appetit. Und ein gewisses geistiges Abstumpfen, da sie eben nur noch die Heimat im Kopf...

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