Alter - Jüdischer Almanach

Alter - Jüdischer Almanach

von: Gisela Dachs

Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2013

ISBN: 9783633734979

Sprache: Deutsch

200 Seiten, Download: 4262 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Alter - Jüdischer Almanach



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MATTHIAS MORGENSTERN
»VOR EINEM GRAUEN HAUPTE
STEHE AUF!« – AUCH AUF DEM ABORT
UND IM BADEHAUS?


»Mipne Seva taqum!« – Gut sichtbar, vorn neben der Scheibe vor dem ersten Sitz, hat der Jerusalemer Busfahrer den Aufkleber mit dem biblischen Imperativ angebracht: »Vor einem grauen Haupte sollst du aufstehen!« (3. Buch Mose/Leviticus 19, 32; Lutherbibel 1985) In manchen öffentlichen Bussen in Israel hängt diese Mahnung auch neben einem Sticker mit den Worten aus 3. Mose 19, 18 »we-ahavta le-re'akha kamokha« (»Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!«). Tatsächlich sieht man, wenn ein alter Mann mit Stock oder eine ältere Frau mit schweren Einkaufstaschen den überfüllten Bus besteigt, junge Leute aufstehen und dem Älteren Platz machen. Gelegentlich, wenn ein Flegel seinen Sitzplatz nicht räumen will, wird er, wie in Israel üblich, von den Umstehenden auch mehr oder weniger lautstark auf seine Pflicht hingewiesen. Der Schutz gebrechlicher und hilfsbedürftiger Menschen, wie er wohl in allen Kulturen zu den grundlegenden Forderungen der Ethik gehört, hat in der jüdischen Tradition auch eine religiöse Grundierung. »Verwirf mich nicht in meinem Alter, und verlass mich nicht, wenn ich schwach werde« – diese Bitte des Psalmisten an Gott (Psalm 71, 9) wird im Judentum auch als an die Gesellschaft gerichtet verstanden. Dieser Psalmvers ist in Israel übrigens von dem orientalisch-mediterranen Liedermacher Avihu Medina vertont worden und wird von unterschiedlichen Schlagersängern in gefühlvollen, teilweise auch etwas schnulzigen Variationen vorgetragen.1

Was als Selbstverständlichkeit erscheint, aber offenbar nicht immer selbstverständlich ist – man würde sich auch andernorts wünschen, dass mit wohlgesetzten Worten darauf hingewiesen wird, was »sich gehört«, wenn ein alter Mensch eintritt, der sich setzen will! –, ist im Judentum zugleich Gegenstand religiösen Lernens. Im Anschluss an den ersten Teil des Verses (in der Buber-Rosenzweig-Übersetzung: »Vor Greisengrau steh auf!«) heißt es in der Bibel, ebenfalls nach Martin Buber und Franz Rosenzweig: »Das Antlitz eines Alten verherrliche!« In einer Kultur, die das Diskutieren innig liebt, verwundert es nicht, dass über die Frage, wie dieses Gebot der »Verherrlichung« des Antlitzes genau zu erfüllen ist, was ein »graues Haupt« (hebräisch »Seva«) von einem »Alten« (»Saqén«) unterscheidet und wie beide zu definieren sind, kontrovers gestritten wird. Mit Bezug auf den »Alten« (»saqén«) ist das Notarikon schnell gebildet, jene etwas künstliche Lesung, die aus jedem Konsonanten der hebräischen Vokabel ein neues Wort herausliest und auf diese Weise einen Satz zusammenstellt: aus saqén wird so im Babylonischen Talmud (Traktat Qidduschin, Blatt 32b) die Definition »se qana chochma«: dieser hat Weisheit erworben.2 Soll man demnach nur vor weisen Männern, also Thoragelehrten aufstehen? Oder gilt die Aufforderung, wie im Talmud Rabbi Isi ben Jehuda lehrte, auch für nichtgelehrte Alte? Ab wann tritt gewöhnlicherweise die Pflicht ein? Sobald der alte Mensch in den Gesichtskreis des betreffenden Jüngeren getreten ist – oder erst, wenn er sich ihm auf vier Ellen genähert hat? Wie ist der Sachverhalt zu beurteilen, wenn es sich bei dem Alten um einen stadtbekannten Bösewicht handelt? Oder aber wenn es der eigene Lehrer des jungen Mannes ist? Hat ein »Alter« schließlich die Möglichkeit, auf die Ehrung zu verzichten? Oder ist ein solcher Verzicht unwirksam und sollte daher unterbunden werden – wie es ja auch von einem König heißt: »Wenn ein König auf seine Ehrung verzichtet, so ist der Verzicht nicht gültig« (Traktat Qidduschin, 32b)? Wie wäre demnach die Geschichte zu verstehen, in der Rabbi Elieser, Rabbi Jehoschua und Rabbi Zadoq von dem höhergestellten Rabbi Gamliel während eines Hochzeitsschmauses den Becher gereicht bekamen? Rabbi Elieser hatte die Dienstleistung Rabbi Gamliels abgelehnt, während Rabbi Jehoschua sie annahm. … Und wie soll die Ehrung des Greises zum Ausdruck kommen? Kommen auch finanzielle Gaben oder das Überreichen von Geschenken in Betracht? Der Talmud verneint dies mit dem Argument, das »Ehren« solle ebenso wenig mit einem Geldverlust verbunden sein wie das »Aufstehen«. Was die Unterscheidung zwischen dem »Greisenalter« oder »grauen Haupt« (»Seva«) und dem »Alten« (»Saqén«) anbelangt, so macht der Traktat der »Sprüche der Väter« (Kapitel 5, 24) genaue Angaben, die in den nach der Thora ausgerichteten Lebenszyklus eingepasst sind: »Mit fünf Jahren ist man bereit zum Studium der Schrift, mit zehn Jahren zum Studium der Mischna, mit dreizehn Jahren für die Erfüllung der Pflichten, mit fünfzehn Jahren für das Studium des Talmuds, mit achtzehn Jahren für die Heirat, mit zwanzig für die Wahl des Berufes, mit dreißig Jahren hat man die Vollkraft, mit vierzig Jahren Einsicht, mit fünfzig Jahren Ratvermögen, mit sechzig das Alter, mit siebzig Jahren das Greisenalter

Der Talmud hat die »Verherrlichung des Antlitzes« der Alten und Greise in erster Linie auf das Verhältnis zwischen den Talmudschülern und ihren Lehrern bezogen. In diesem Zusammenhang entsteht ein ganzer Diskurs zum Thema der Alten-Ehrung. Haben die Talmudgelehrten dabei Angst, dass ihre Weisheit nicht genügend gewürdigt wird? Stehen sie in Konkurrenz zueinander? Sind auch Reibereien zwischen babylonischen und »palästinensischen«, also im Land Israel lehrenden Talmudweisen im Spiel? Jedenfalls entsteht der Eindruck, dass die Alten des Talmuds sich mit den an die Jungen gerichteten Forderungen der Ehrerbietung gegenseitig überbieten und dabei fast ins Unermessliche steigern. So wird dem babylonischen Gelehrten Rav Chisda folgender Ausspruch in den Mund gelegt: »Wenn jemand gegen seinen Lehrer streitet, so ist es ebenso, als würde er gegen die Schechina – gemeint ist die (göttliche) Einwohnung, also die Göttlichkeit und letztlich Gott selbst – streiten.« Sein palästinensischer Kollege Rabbi Chama ben Chanina verschärfte diese Forderung im dritten nachchristlichen Jahrhundert: »Wenn jemand mit seinem Lehrer (auch nur) hadert, so ist es ebenso, als würde er es mit der Einwohnung tun.« Der jüngere palästinensische Thoraweise Rabbi Chanina ben Pappai replizierte: »Wenn jemand über seinen Lehrer räsoniert, so ist es ebenso, als würde er über die Göttlichkeit räsonieren.« Dessen palästinensischer Zeitgenosse Rabbi Abbahu legte nach: »Wenn jemand seinem Lehrer üble Gedanken nachträgt, so ist es ebenso, als würde er der Göttlichkeit üble Gedanken nachtragen.«3

Beim Nachsinnen über solch üble Gedanken scheinen den Talmudlehrern andererseits aber Bedenken im Hinblick auf die Auswüchse des Ehrens gekommen zu sein. Ist dieser theologische Aufwand zur Sicherung der Reputation alter Männer nicht übertrieben? Vielleicht waren es Talmudgelehrte, die – weise, wie sie waren – der kritischen Selbstbetrachtung nicht aus dem Weg gingen; möglicherweise konnten oder wollten Oppositionelle die Vorschriften zur Ehrung der Alten aber auch nicht direkt attackieren und wählten daher einen indirekten Weg: Die kontroverse Auseinandersetzung über die Altenehrung findet im Talmud jedenfalls im Medium lustiger Szenen statt, und beim Lesen hört man förmlich das Kichern und Glucksen hinter den Schulbänken der babylonischen Lehrhäuser: Soll man vor einem Thora-Alten etwa auch aufstehen, wenn man ihn auf der Toilette trifft?4 Vorgestellt werden hier offensichtlich römische Bedürfnisanstalten, in denen die Männer während ihrer Verrichtungen wie die Hühner auf der Stange nebeneinandersaßen. Offensichtlich würde die »Ehrung« in einem solchen Moment nicht zur »Verherrlichung des Angesichtes« führen, weshalb – so heißt es – man besser die Augen schließen und so tun solle, als habe man den zu Ehrenden nicht gesehen. Wie sieht es aber nun bei Begegnungen im Badehause aus? Ist hier vielleicht zwischen den inneren Räumen, dem eigentlichen Badebereich, und den Vorräumen zu unterscheiden?

Der talmudische Erzähler dieser Geschichten findet noch einmal zu einer Steigerung. Eines Tages, so wird berichtet, saß Rabbi Chijja im Badehause, und Rabbi Shimon bar Rabbi ging an ihm vorüber und grüßte ihn nicht. Der Talmudweise nahm es übel auf; er ging zum Vater des Delinquenten und beschwerte sich: Zwei Bücher der Psalmen, so sprach er, habe er den jungen Mann gelehrt, und er stand nicht vor ihm auf! Demnach waren sie im Unterricht gerade bis Psalm 72 gekommen, aber der junge Mann hatte den kurz zuvor gelernten Vers aus Psalm 71,9 (»Verwirf mich nicht in meinem Alter!«) nicht beherzigt. Diese Geschichte, so heißt es, wog umso schwerer, als derselbe junge Mann bei anderer Gelegenheit an einem anderen Thoraweisen grußlos im Badehause vorbeigegangen war! Bei diesem Lehrer hatte er zuvor das Buch Leviticus gelernt. War dabei ausgerechnet die Weisung aus Kapitel 19,32 (»Vor einem grauen Haupte stehe auf!«) vergessen worden? Der Vater des Jungen war nicht auf den Mund gefallen. Augenzwinkernd gibt er zu Antwort: Sicherlich war er in Gedanken versunken, weil er gerade über die ihm erteilte Thoralektion nachdachte. Nur aus diesem Grund habe er den Alten übersehen.

Überraschend in der talmudischen Schilderung ist, dass der Erzähler den Namen des beleidigten rabbinischen Alten, des Leviticus-Lehrers, nicht mehr zu nennen weiß. Hat es sich um den Gelehrten Bar Qappara oder um Rabbi Schemuel bar Rabbi Jose gehandelt? In unserer an Skandale gewöhnten Gesellschaft werden peinliche Geschichten sofort...

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