Ich bin zu alt für diesen Scheiß - Roman

Ich bin zu alt für diesen Scheiß - Roman

von: Julia MacDonnell

Ullstein, 2014

ISBN: 9783843709859

Sprache: Deutsch

304 Seiten, Download: 2115 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Ich bin zu alt für diesen Scheiß - Roman



1. Too close for Comfort


Ich sitze am Tisch vor dem Fenster und sehe, ohne es zu wollen, zu, wie andere Hausbewohner, dick vermummt an diesem eisigen Morgen, zur Arbeit eilen – rennen, um den Bus noch zu erreichen, oder ihre Autos starten und dann auf dem Parkplatz warm laufen lassen, bevor sie in Büros, Geschäfte, Banken, Schulen, Krankenhäuser und wohin sonst noch aufbrechen, wie ich das selbst auch vor noch nicht allzu langer Zeit getan habe. Jetzt besteht meine einzige Arbeit darin, meine erste Tasse Maxwell House Master Blend zu trinken und eine True Blue zu rauchen, die ich mit dem letzten Streichholz aus dem Briefchen angezündet habe, das ich aus dem Supermarkt mitgenommen habe. Im Unterschied zur Szenerie vor meinen Augen genieße ich den ersten Zug, doch dann klingelt wie ein Alarm das Telefon. Ich sehe auf die Uhr. Kurz nach acht. Ich lasse es ein paarmal läuten. Es kann nur Cassandra sein, meine Erstgeborene. Um diese Zeit des Tages erstellt sie ihre Aufgabenliste, auf der ganz oben mein Name, mein Leben und darunter ihre Pläne stehen, wie sich dieses verbessern ließe.

»Mimi, morgen ist Haus der offenen Tür in Squantum River Living, diesem neuen Seniorenkomplex.« Sie atmet schwer, als hätte sie gerade im Powerball-Lotto gewonnen, aber ich könnte Feuer spucken.

»Squantum River Living«, wiederhole ich. Habe ich gerade im Patriot Ledger drüber gelesen, in einem extra Teil für Wohnen für Senioren. Außerdem hat sie mir die Broschüre schon geschickt.

»Das ist eine tolle neue Senioreneinrichtung, sogar subventioniert.«

Ich schwöre, in solchen Momenten wirkt Cassandras Stimme wie ein Zahnbohrer auf mich.

»Lass uns hingehen. Das wird bestimmt lustig.«

»Ich weiß bereits alles, was ich über diesen Ort wissen möchte.«

Squantum River Living ist ein umweltfreundlich gebauter niedriger Gebäudekomplex mit drei Flügeln und Solarpanelen auf dem Dach. Drei Flügel. Welches Geschöpf hat schon drei Flügel? Ein Flügel ist für die sogenannten Aktiven, selbständig Wohnenden, der zweite für Wohnen im Übergang, will heißen für die, die schon einen Fuß im Grab haben, und der letzte ist für betreutes Wohnen, will heißen, man hilft dir nur zu gern, auch den anderen Fuß hineinzubringen. Und danach stelle ich mir vor, können sie dich gleich in dem Fluss entsorgen, der durch das Anwesen fließt. Squantum River. Ohne Wenn und Aber. Wenn du Glück hast, treibst du einfach davon.

»Squantum River Sterben, so hätten sie es nennen sollen.«

»Du bist so negativ.«

»Bin ich nicht!«

Mimis Zwangsräumung aus ihrer Wohnung: Das hat für Cassandra oberste Priorität, seit ich meinen Job als Angestellte im öffentlichen Dienst des VA-Krankenhauses drüben in Jamaica Plain verloren habe. Seit ich mit einem fixen Einkommen auskommen muss, fixiert kurz über der Armutsgrenze –genug, um über die Runden zu kommen, aber nicht genug, um dabei viel Spaß zu haben –, versucht Cassandra, mich hier rauszuholen.

»In ein paar Jahren wirst du bankrott sein.«

»Meine Finanzlage geht dich gar nichts an.«

»Wird es aber, wenn alles aufgebraucht ist.«

»Kümmere du dich doch um deine eigenen Probleme«, sage ich lauter als beabsichtigt, aber vielleicht kriegt sie es ja gar nicht mit.

Doch sie fängt zu schniefen an. Ich habe sie zum Weinen gebracht. Ich bin so grausam zu ihr, das ist eine meiner vielen Sünden, meiner Unzulänglichkeiten. Nicht, dass meine Wohnung so großartig wäre. Es sind nur drei Zimmer – nicht genug Platz für viele Besucher und schon gar nicht für ein Familienfest. Aber sie liegt in einer reizenden Gartenwohnanlage namens Centennial Square, direkt an der Innenstadt von Quincy. Meine Wohnung liegt etwas tiefer – Souterrain nennt man das wohl –, weshalb die Sicht nicht allzu gut ist, die Miete aber dafür billiger. Und ich habe auch viele Fenster. Die meines Wohnzimmers befinden sich in Brusthöhe. Hauptsächlich sehe ich die Füße meiner Nachbarn, wenn sie zur Arbeit und wieder nach Hause eilen. Aber die Wohnung gehört mir. Mir ganz allein. Ich muss sie mit keinem teilen und mich auch um keinen kümmern. Sobald auch nur das kleinste Problem auftaucht, kommt Duffy, unser Hausmeister, und repariert es. Einen zuverlässigeren Typen findet man entlang der ganzen South Shore nicht. Ich komme und gehe, wie es mir passt. Hier kritisiert mich keiner.

»Nächste Frage, Baby.« Diesmal bin ich netter, weil ich mir sicher bin, dass Cassandra noch einen weiteren Punkt auf ihrer Liste stehen hat, sonst hätte sie inzwischen längst aufgelegt.

»Hast du den Fragebogen bekommen?« Sie schnauft noch immer heftig, als hinge die Zukunft des Planeten von meiner Antwort ab. »Den Fragebogen«, wiederholt sie, lauter diesmal, als wäre ich taub und nicht nur dumm.

»Den Fragebogen?«

»Ach Mimi!«, jammert sie auf eine Weise, die mir sagt, dass ich mal wieder völlig versagt habe und ihren Ansprüchen an Verhalten und Intelligenz nicht genüge. »Du hast ein Gedächtnis wie ein Sieb.«

»Hab ich nicht.« Ich sehe eins dieser Dinger vor mir, mit seinen vielen kleinen Löchern und einer brühheißen Flüssigkeit – sagen wir eine Suppe –, die durchfließt, während die großen Brocken hängenbleiben. »Es ist nur eine altersbedingte Gedächtnislücke. Die steht mir zu.«

»Und ehe du dich versiehst, erstrecken sich deine altersbedingten Gedächtnislücken über Tage und du endest wie Tante Lillian. Außerdem weißt du verdammt gut, wovon ich spreche, nämlich Tante Pattys Fragebogen. Für die Familiengeschichte. Den Stammbaum, das Geschenk für unsere Kinder. Letzte Woche hat sie ihn losgeschickt.«

Stimmt, ja. Jetzt fällt es mir wieder ein. Meine Schwester Patty kam, angestachelt von einem ihrer Enkel, einem begabten kleinen Prinzen – ihre Worte –, auf die Idee, unsere Familiengeschichte zu schreiben. Ausgerechnet Patty, die nicht mal eine Postkarte aus Disney World schreiben kann.

»Ach ja, sicher, der Fragebogen«, sage ich, obwohl ich ihn noch gar nicht gesehen habe. Sehr wahrscheinlich liegt er in meinem Postkorb auf dem Tisch neben der Eingangstür. Zusammen mit den Angeboten für Ölwechsel oder Gedenkmünzen von Franklin Mint sowie den Werbezetteln des Werks für Glaubensverbreitung.

Ich habe ein System: Jeden Nachmittag gegen vier Uhr gehe ich hinaus in den Hausflur und hole meine Post aus dem Briefkasten. Wenn ich dann wieder in meinen eigenen kleinen Wohnungsflur zurückkomme, werfe ich alles in einen Korb, einen hübschen Korb mit aufgedruckten Äpfeln. Sofern mich nicht der Drang überkommt, etwas davon zu öffnen, was höchst selten der Fall ist, kommt am Montagabend, wenn ich auf dem Weg hinaus zur Tonne bin, alles in den Müll. Spart Unordnung und Zeit. Das System funktioniert, sofern man daran denkt, auf die Rückvergütungen und den Scheck der Sozialversicherung zu achten.

»Sieh doch mal in den Haufen neben deiner Eingangstür.« Cassie, bevormundend wie immer. Sie ist wie mein Exmann und glaubt, dass die Welt nur dank ihr, ihr ganz allein, rundläuft. »Wahrscheinlich liegt er da.«

»Ist gut. Sollte er dort sein, rufe ich dich zurück.«

Ich lege auf, trinke meinen Kaffee zu Ende und zünde mir noch eine Zigarette an, bevor ich in meiner Post nachsehe. Eilig habe ich es nicht und bin auch nicht in der Stimmung, Cassandras Befehlen zu gehorchen. Ich vertrage sie nur in kleinen Dosen, wie bittere Medizin für einen chronischen Schmerz. Außerdem steht auf meiner Aufgabenliste Pattys Stammbaum ganz unten. Keinerlei Interesse meinerseits. Ich gehöre nicht zu denen, die sich mit Feuereifer auf die Vergangenheit stürzen. Ich blicke nach vorn und bin stolz darauf. Was immer dich heimsuchen mag, komm drüber hinweg und lass dich nicht beirren. Genau so habe ich mein Leben gelebt und meine Mädchen erzogen. Oder jedenfalls versucht, sie zu erziehen, trotz des ständigen unterminierenden Einflusses von John Francis Xavier Malloy, alias Jack, besagtem Ex.

Der Korb steht im Flur auf einem Tisch, über dem ein Spiegel hängt, beides, Tisch und Spiegel, haben die Vormieter zurückgelassen, als ich vor fünfzehn Jahren hier einzog. Ich blättere die Post durch. Ein Flyer für den Seniorenspaßtag in einem lokalen Wellnesscenter, ein weiterer für Goldenes-Alter-Tai-Chi-Angebote im Fitnesscenter. Schmieren Sie ihre Gelenke! Verbessern Sie Ihre Balance! Finden Sie zu Heiterkeit und Ruhe! Oh, und diese verdammte Broschüre für das Squantum-River-Lagerhaus für Leute, deren Verfallsdatum bereits abgelaufen ist. Kein Fragebogen. Typisch Patty – einen Tag länger, einen Dollar billiger.

Da sehe ich mich im Spiegel. Bin ich tatsächlich diese Frau? Eine welkende Brünette, gut gepolstert und schon weit jenseits ihrer Blütezeit. Als ich das Licht im Flur einschalte, wird es noch schlimmer. Mimi ganz allein. Mimi Malloy höchstpersönlich. Dann entdecke ich hinter dem alten Ich die wohlgeformte Brünette, die ich einmal war, die mit der schmalen Taille und dem Grübchenlächeln, die Frau, in die Jack Malloy sich vor so langer Zeit verliebt hatte. Maire Sheehan alias Mimi. Kleine Mimi, ich liebe dich so sehr.

Der Spiegel flüstert mir etwas zu, das ich schon längst weiß: Ich bin nicht mehr die Schönste im ganzen Land. Bei weitem nicht. Hängebäckchen um meine Kinnlinie. Liebeshenkel, aber keine Liebe. Als ich dichter herantrete, entdecke ich ein langes Haar, ein Barthaar, das links aus meinem Kinn sprießt, weiß und dick wie ein Faden. Ich ziehe es mir alle paar Wochen raus, aber es wächst jedes Mal wieder nach. Manchmal vergesse ich es...

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