Die Unvergleichlichen - Parallelroman

Die Unvergleichlichen - Parallelroman

von: Daniel Suter

edition 8, 2015

ISBN: 9783859902374

Sprache: Deutsch

752 Seiten, Download: 2101 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Unvergleichlichen - Parallelroman



Erstes Buch Paula


1899


Ramtatam … ramtatam … ramtatam, immer nur ramtatam, nie hört das auf, ramtatam trommelt es, ramtatam, eine Ewigkeit schon, ramtatam schlagen Eisenräder auf Eisenschienen, ramtatam hämmern sie von unten herauf, ramtatam durch den Boden, ramtatam durch die roten Plüschpolster der Bank, ramtatam durch alle Knochen, ramtatam hallt es im Kopf und lässt ihn nicht einschlafen.

Schlafen. Schlafen.

Hänschen kann schlafen, er ist noch klein, er liegt halb in Mamas Schoss. Mamas Augen sind geschlossen, ihr Kinn hängt herunter, der Mund steht halb offen, wie eine Tür, die einer beim Hinausgehen vergessen hat hinter sich zu schliessen. Papas Platz ist leer. Er ist wieder aufgestanden und in die andere Wagenhälfte gegangen. Dort darf er rauchen. Mama will nicht fort von Berlin. Immer wenn sie daran denkt, drückt sie das Taschentuch an den Mund, als ob ihr schlecht ist und dreht sich zum Fenster. Sie ist dumm, wenn sie meint, dass man es nicht merkt. Durchs Fenster kann sie gar nichts sehen. Innen ist die Scheibe dampfbeschlagen, und aussen kriechen Regentropfen schräg darüber. Ramtatam durch die Dunkelheit, unsichtbar ist das neue Land, in dem sie leben werden. So lange schon sind sie in der Eisenbahn. Einen Abend, eine Nacht, einen Tag, und jetzt ist wieder Nacht. Ramtatam, tausend Kilometer, tausend mal tausend ramtatam.

»Kinder«, sagt Papa, »wir ziehen in die Schweiz!«

Mama steht auf und trägt die Nudelschüssel in die Küche. Sie bleibt draussen, während Papa erzählt, dass sie in Zürich, einer schönen Stadt mit einem See, wohnen werden und er dort sein eigenes Geschäft eröffnen wird.

»Verkaufst du dort Pelzmäntel?«

»Nein, Paulinchen, mit den Pelzmänteln ist jetzt Schluss. Ich habe bei Herrn Wolff gekündigt. Rayonchef war ich lange genug, jetzt will ich mein eigener Herr und Meister sein – mit Reklametafeln. Reklame, Paulinchen, das ist das Geschäft des neuen Jahrhunderts.«

»Und was steht auf deinen Tafeln?«

»Alles, was die Leute wollen.«

»Verkaufst du in deinem Geschäft alles, was es gibt?«

Papa lacht. »Nein, Paula. Ich verkaufe nur die Reklameschilder dazu.«

»Und die Sachen?«

»Die sind in all den anderen Geschäften, die bei mir ihre Reklame bestellen. Verstehst du?«

Paula nickt. Papa hat im Sinn, anderen Geschäften etwas zu verkaufen, was er gar nicht hat. Als ob er Luft verkaufen wollte.

Die drei Böhmes, Mamas Brüder, kommen mit ihren Frauen zum Anhalter Bahnhof. Onkel Adolf und Tante Elise, Onkel Richard und Tante Hedwig, Onkel Paul und Tante Paula. Alle umarmen sie Mama und drücken Papa ein bisschen steif die Hand. Die Frauen weinen, sogar die junge, fröhliche Tante Paula. Mama laufen die Tränen wie Bäche herunter. Sie presst die Lippen so fest zusammen, dass ihr Kinn zittert, und ihr Schluchzen klingt wie ein erstickter Aufschrei, als sie sich den Brüdern an die Brust wirft.

»Nu, nu, Grete.« Onkel Paul klopft ihr auf den Rücken. »Ist doch nicht Amerika.«

»Im Grunde bist du zu beneiden. Wer wäre nicht selbst gerne in der schönen Schweiz?«, tröstet Onkel Richard, Gymnasiallehrer und Redakteur der »Deutschen Literaturzeitung«.

Papa steht daneben, die Hände auf dem Rücken. Er hat keine Verwandten in Berlin; die Ahrons kommen aus Hamburg.

»Im Grunde wollte ich schon viel früher weiter«, sagt er zu Onkel Adolf. »Bin zum Heiraten nach Berlin gekommen und dann hier hängen geblieben. Aber nach zwölf Jahren ist es Zeit, sich ein wenig in der Welt umzuschauen.«

»Ich möchte nicht fort. Man kann auch in Berlin sein eigenes Geschäft eröffnen«, brummt Adolf Böhme, der in Wilmersdorf einen Laden für elektrische Lampen hat. Und überschwänglich fügt Tante Elise hinzu: »Ihr wisst, dass Berlin euch immer mit offenen Armen aufnehmen wird, falls es euch in der Schweiz nicht mehr gefallen sollte.«

»Es wird uns aber allen in Zürich sehr gefallen«, erwidert Papa.

Tante Paula hat eine Überraschung für Paula.

»Das ist für dich«, flüstert sie ihr ins Ohr und drückt ihr etwas Kleines in die Hand. »Kauf dir was Nettes, wenn du in der Schweiz bist. Aber das bleibt unser Geheimnis.«

Stunden später, als es im Zug nichts mehr zu reden gibt und die anderen vor sich hindösen, wickelt Paula das Geschenk aus dem rosa Seidenpapier. Eine glänzende Münze rutscht ihr in die Hand, ›1 Fr.‹ steht vorne drauf, und darunter ›1889‹. Das Silberstück ist genau gleich alt wie Paula. Die Tante muss es extra ausgesucht haben, und poliert hat sie es auch, sonst würde es nicht so strahlen. Auf der Rückseite ist eine Frau, eine Römerin oder Griechin im langen Kleid, lässig hält sie den nadeldünnen Speer in der Rechten, und mit dem anderen Arm stützt sie sich auf einen Schild. Der Schild hat ein Kreuz, das ist die Fahne der Schweiz, Papa hat sie Paula im Atlas gezeigt, eine rote Fahne mit einem weissen Kreuz. Zu Füssen der Frau steht etwas geschrieben, so klein, dass man es nicht lesen kann. Aber Papa hat zu Hause eine Lupe in seinem Schreibtisch.

Zu Hause? Wo wird das sein?

Jetzt steckt die Lupe in irgendeiner der vielen Kisten, die tagelang in allen Zimmern an der Spandauerstrasse herumstanden, bis die Fuhrknechte sie abholen kamen und die Wohnung plötzlich unheimlich gross und leer war. Die letzte Nacht schlief Mama mit Paula und Hans an der Motzstrasse bei Onkel Paul und Tante Paula.

»So viele Paules unter einem Dach!«, lachte der Onkel.

Papa übernachtete in der alten Wohnung.

Und in Zürich werden sie zuerst in einem Hotel wohnen, bis die Möbel angekommen sind.

Auf die Reise konnten sie nur zwei Koffer mitnehmen, und für jedes Kind eine Tasche. Hermine packte für Paula Kleider zum Wechseln und ein Nachthemd ein. Dabei erzählte sie von ihrer neuen Stelle bei einem Studiendirektor und seiner Frau. Auch wieder Juden. Lateinisch mache der Mann und Griechisch, ohne Kinder, leider, aber dafür sei der Dienst ruhiger, was auch sein Gutes habe, jetzt, wo sie selbst langsam in die Jahre komme, und plötzlich waren Hermines Augen nass und sie drückte Paula an sich und küsste sie heftig: »Aber fehlen werdet ihr mir schon, du und das Hänschen«, sagte sie bebend und wischte sich mit der Schürze das Gesicht ab. Als sie gegangen war, öffnete Paula die Tasche noch einmal und bettete Tilly auf ihr Nachthemd. Obschon sie aus dem Puppenalter heraus ist und Tilly nur noch als Erinnerung an frühere Zeiten auf Paulas Kommode sitzen durfte, wo sie oft zur Seite kippte und tagelang auf ihrer abgeschrammten Nase lag, bevor Paula sie wieder aufrichtete, so war es doch unvorstellbar, die Puppe in einer der harten Kisten auf die lange Reise zu schicken. Wie eine Rabenmutter wäre sich Paula vorgekommen.

Eigentlich hat sie im Sinn gehabt, während der ganzen Fahrt aus dem Fenster zu schauen, denn so weit ist sie noch nie gereist, quer durch ganz Deutschland und über die Grenze ins Ausland. Aber sie sind noch nicht einmal in Leipzig, da wird es draussen schon dunkel. Ein Weilchen kann sie noch lesen, »Siebenmeilenstiefel« von Clementine Helm, dann brennen ihr die Augen von dem dünnen, unruhigen Gaslicht im Coupé. Sie schliesst ihr Buch und lehnt den Kopf gegen das Kissen, das Hermine noch in letzter Minute in ihre Tasche gepresst hat und an seiner Stelle um ein Haar Tilly herausgenommen hätte, wenn nicht Paula darauf beharrt hätte, eher ohne Kissen als ohne Tilly zu reisen. »So ein Geschiss wegen einer alten Puppe«, hat Hermine gemurrt und den Riemen sattgezurrt.

Paula versucht zu schlafen, halb sitzend, halb liegend, die Füsse auf das Plüschpolster gezogen und den Mantel wie eine Decke über sich gebreitet. Das regelmässige Ramtatam der Räder betäubt die Sinne und rüttelt sie zugleich immer wieder wach. Alle paar Minuten schreckt sie auf, weil sie das Gefühl hat, über eine Klippe in den Abgrund zu kippen. Doch es ist bloss ihr Kopf, der vornübergesunken ist. Kein Abgrund, nichts Tiefes, nur flache Pfützen von Schlummer. Irgendwann, mitten in der Nacht, haben die Räder geschwiegen, glaubt sie sich zu erinnern, als sie sich am frühen Morgen wieder aufsetzt, durchfroren und mit schwerem Kopf. Bamberg, sechs Uhr. Sie will nichts sehen von den bayerischen Bergen, schliesst die Augen wieder und wünscht sich, dass Hänschen mit seinem Gejammer aufhört.

Einmal nur geht sie aufs Klo. Mit zwei Fingern kneift sie sich die Nase zu und atmet durch den Mund. Durch die braune Röhre brüllen wütend die Räder herauf. Ein kalter Lufthauch streift ihren nackten Hintern mit Geisterhand; von unten kommt es herauf – gleich packt es zu und zerrt sie durch das offene Loch auf die Schienen hinab, wo die rasenden Räder sie in kleine Stücke – sofort springt Paula auf und lässt, damit alles rascher geht, die Nase los. Es stinkt abscheulich.

Auf dem Seitengang steht Papa und raucht seine kleine Zigarre. Um seinen dunklen Schnurrbart stehen graue Stoppeln.

Müde beginnt der Tag, und er bleibt es auch. Müde und schwer. Das Hinausschauen macht keinen Spass mehr. Quer durch Deutschland – Paulas Herz war ganz aufgeregt, zu Hause, als sie sich vorzustellen versuchte, was sie auf dieser Reise alles sehen würde. Ein endloses Panoptikum. Tausend Kilometer sind eine Million Meter, und jeder Meter ist eine Entdeckung.

Und nun?

Eine namenlose, langweilige Landschaft, oben graue Wolken, unten grüne Hügel, Wiesen, nackte Äcker, trübe Wälder. Ab und zu wischen Büsche, Stämme und Masten dicht am Fenster vorbei. Und kommt einmal etwas Abwechslung in die Aussicht, Häuser, Strassen, Menschen, bleibt keine Zeit zum Schauen. Je...

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