Das sterbende Tier - Roman

Das sterbende Tier - Roman

von: Philip Roth

Carl Hanser Fachbuchverlag, 2015

ISBN: 9783446251281

Sprache: Deutsch

168 Seiten, Download: 3478 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das sterbende Tier - Roman



Ich lernte sie vor acht Jahren kennen. Sie war in meinem Seminar. Ich habe keine Vollzeit-Professur mehr – genaugenommen unterrichte ich nicht einmal mehr Literatur. Seit Jahren veranstalte ich nur noch dieses eine Seminar, ein großes Oberseminar über Literaturkritik mit dem Titel »Praktische Kritik«. Es kommen viele Studentinnen. Aus zwei Gründen. Zum einen bietet dieses Thema eine verführerische Kombination aus intellektuellem Glamour und journalistischem Glamour, zum anderen haben sie mich und meine Buchrezensionen auf NPR gehört oder mich auf Channel Thirteen gesehen, wo ich über Kultur spreche. In den vergangenen fünfzehn Jahren habe ich in dieser Region durch meine Fernsehauftritte als Kulturkritiker einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht, und deswegen kommen sie in mein Seminar. Anfangs war mir nicht bewußt, daß wöchentliche Zehn-Minuten-Auftritte im Fernsehen so beeindruckend sein könnten, wie sie es für diese Studentinnen offenbar sind. Doch diese jungen Frauen fühlen sich hoffnungslos zu Berühmtheiten hingezogen, so unerheblich meine auch sein mag.

Nun, wie Sie wissen, bin ich für weibliche Schönheit sehr empfänglich. Jeder hat seine verwundbare Stelle, und das ist eben meine. Ich sehe weibliche Schönheit und bin so geblendet, daß ich nichts anderes mehr wahrnehme. Sie kommen zur ersten Seminarsitzung, und ich weiß beinahe sofort, welche für mich bestimmt ist. Es gibt eine Geschichte von Mark Twain, in der er beschreibt, wie er vor einem Stier davonrennt, und der Stier sieht hinauf zu der Baumkrone, in der Twain sich versteckt, und denkt: »Sie, Sir, sind genau mein Fall.« Tja, wenn ich sie in meinem Seminar sehe, wird aus dem »Sir« eine »junge Dame«. Es ist jetzt acht Jahre her – ich war damals bereits zweiundsechzig, und Consuela Castillo war vierundzwanzig. Sie ist nicht wie die anderen Studentinnen. Sie sieht nicht aus wie eine Studentin, jedenfalls nicht wie eine gewöhnliche Studentin. Sie ist kein spätpubertäres, ungepflegtes Mädchen mit schlechter Haltung, das ständig »irgendwie« sagt. Sie drückt sich gut aus, sie ist sachlich, ihre Haltung ist perfekt – sie scheint etwas über das Erwachsenenleben zu wissen, unter anderem darüber, wie man sitzt, steht und geht. Sobald man den Seminarraum betritt, sieht man, daß diese Frau entweder mehr weiß oder mehr wissen will. Wie sie sich kleidet. Sie hat nicht direkt das, was man Chic nennen würde, sie ist jedenfalls nicht extravagant, aber immerhin trägt sie nie Jeans, seien es nun gebügelte oder ungebügelte. Sie wählt ihre Garderobe sorgfältig, mit dezentem Geschmack: Röcke, Kleider, gutsitzende Hosen. Nicht um ihre Vorzüge zu verbergen, sondern vielmehr, wie es scheint, um einen professionelleren Eindruck zu machen, kleidet sie sich wie eine attraktive Sekretärin in einer angesehenen Anwaltskanzlei. Wie die Sekretärin des Vorstandsvorsitzenden einer Bank. Eine cremefarbene Seidenbluse unter einem maßgeschneiderten blauen Blazer mit Goldknöpfen, eine braune Handtasche mit der Patina teuren Leders, dazu passende, knöchelhohe Stiefel und einen grauen, engen Strickrock, der ihre Konturen so subtil betont, wie ein solcher Rock das nur kann. Ihre Frisur ist unaufwendig, ihr Haar gepflegt. Sie hat eine blasse Haut, ihre Lippen sind geschwungen, aber voll, und ihre Stirn ist gewölbt und faltenlos und von der glatten Eleganz einer Brancusi-Skulptur. Sie ist Kubanerin. Ihre Angehörigen sind wohlhabende Kubaner, die in Jersey leben, jenseits des Flusses, in Bergen County. Sie hat tiefschwarzes, glänzendes Haar, das aber auch ein kleines bißchen grob ist. Und sie ist eine große Frau mit einem großen Busen. Die oberen beiden Knöpfe der Seidenbluse sind geöffnet, so daß man sehen kann, daß sie ausladende, wunderschöne Brüste hat. Man sieht sofort auf ihr Dekolleté. Und man sieht, daß sie das weiß. Man sieht, daß sie sich trotz aller Zurückhaltung, trotz aller Gewissenhaftigkeit, trotz aller sorgsamen Gepflegtheit – oder vielleicht gerade deswegen – ihrer selbst bewußt ist. Sie erscheint zur ersten Seminarsitzung, und das Jackett über der Bluse ist zugeknöpft, doch bereits nach fünf Minuten hat sie es ausgezogen. Als ich das nächstemal zu ihr hinsehe, hat sie das Jackett wieder angezogen. Man erkennt also, daß sie sich ihrer Macht bewußt ist, aber noch nicht genau weiß, wie sie sie einsetzen soll, was sie damit anfangen soll und ob sie diese Macht überhaupt haben will. Dieser Körper ist für sie noch neu, sie probiert ihn noch aus, sie denkt darüber nach – sie ist ein bißchen wie ein Jugendlicher, der mit einer geladenen Pistole durch die Straßen geht und noch nicht weiß, ob er die Waffe zur Selbstverteidigung eingesteckt hat oder dabei ist, eine Verbrecherlaufbahn einzuschlagen.

Und sie ist sich noch einer anderen Sache bewußt, und das ist etwas, was ich nach dieser ersten Seminarsitzung noch nicht wissen konnte: Sie findet Kultur wichtig, auf eine ehrerbietige, altmodische Weise. Nicht daß Kultur etwas ist, nach dem sie ihr Leben ausrichten möchte. Das tut sie nicht, und das will sie auch gar nicht – dazu ist sie zu sehr Produkt einer traditionellen Erziehung –, aber Kultur ist wichtiger und wunderbarer als alles andere, das sie kennt. Sie ist eine von denen, die impressionistische Kunst überwältigend finden, doch einen kubistischen Picasso muß sie lange und eingehend – und stets mit einem Gefühl qualvoller Verwirrung – betrachten und sich die allergrößte Mühe geben, ihn zu verstehen. Sie wartet auf die überraschende neue Empfindung, den neuen Gedanken, das neue Gefühl, und wenn diese sich nicht einstellen, verurteilt sie sich dafür, daß sie unfähig ist, daß es ihr mangelt… mangelt an was? Sie verurteilt sich dafür, daß sie nicht einmal weiß, woran es ihr mangelt. Beim Anblick eines auch nur entfernt modernen Kunstwerks ist sie nicht nur verwirrt, sondern auch enttäuscht von sich selbst. Sie hätte so gern, daß Picasso für sie bedeutsamer wäre, daß er vielleicht ihr Leben verändern würde, doch vor dem Proszenium des Genies hängt ein Schleier, der ihr die Sicht nimmt und ihre Verehrung ein bißchen auf Distanz hält. Sie gibt der Kunst in all ihren Erscheinungsformen weit mehr, als sie zurückbekommt – eine Ernsthaftigkeit, die nicht ohne einen gewissen ergreifenden Reiz ist. Ein großes Herz, ein hübsches Gesicht, ein einladender und zugleich zurückhaltender Blick, herrliche Brüste – eine Frau, die erst vor so kurzer Zeit geschlüpft war, daß ich nicht überrascht gewesen wäre, wenn an ihrer glatten, eiförmig gekrümmten Stirn noch Schalenstückchen geklebt hätten. Ich sah sofort, daß sie genau mein Fall war.

Nun, ich habe seit fünfzehn Jahren eine eiserne Regel, die ich nie breche: Keine privaten Kontakte, bis sie ihre Prüfung abgelegt und ihre Note erhalten haben und ich nicht mehr offiziell in loco parentis bin. Trotz aller Versuchungen – oder auch deutlichen Signale, einen Flirt zu beginnen und mich ihnen zu nähern – habe ich mich an diese Regel gehalten, seit ich Mitte der achtziger Jahre die Notrufnummer für Opfer sexueller Belästigung an der Tür meines Büros fand. Während des Semesters mache ich mich nicht an sie heran, denn ich will denen, die mir, wenn sie nur könnten, die Lebensfreude ernsthaft vergällen würden, keinen Vorwand liefern.

Jedes Jahr unterrichte ich vierzehn Wochen lang, und während dieser Zeit habe ich keine Affären mit Studentinnen. Ich greife lieber zu einem Trick. Es ist ein einwandfreier Trick, ein offener und ehrlicher Trick, aber eben trotzdem ein Trick. Nach der Prüfung, wenn die Noten verteilt sind, veranstalte ich in meiner Wohnung eine Party. Sie ist immer ein Erfolg, und sie läuft immer gleich ab. Ich lade alle Seminarteilnehmer für sechs Uhr zu einem Drink ein. Ich sage ihnen, daß wir von sechs bis acht etwas trinken werden, und sie bleiben immer bis zwei Uhr morgens. Nach zehn drehen die Mutigsten auf und erzählen mir von ihren eigentlichen Interessen. Das Seminar »Praktische Kritik« hat etwa zwanzig, manchmal auch fünfundzwanzig Teilnehmer, und das heißt, es sind fünfzehn, sechzehn Frauen und fünf oder sechs Männer, von denen zwei oder drei nicht schwul sind. Bis um zehn hat sich die Hälfte verabschiedet. Danach sind meist ein nichtschwuler und vielleicht ein schwuler Mann und etwa neun Frauen übrig. Es sind immer die kultiviertesten, intelligentesten und lebhaftesten. Sie sprechen darüber, welche Bücher sie lesen, welche Musik sie hören, welche Ausstellungen sie sich angesehen haben – Leidenschaften, über die sie normalerweise nicht mit ihren Eltern und auch nicht unbedingt mit ihren Freunden reden. In meinem Seminar finden sie einander. Und sie finden mich. Während dieser Party stellen sie auf einmal fest, daß ich ein menschliches Wesen bin. Ich bin nicht mehr ihr Lehrer, ich bin nicht mehr meine Reputation, ich bin nicht mehr ihr Vater. Ich habe eine hübsche, aufgeräumte Maisonettewohnung, und sie sehen meine große Bibliothek, die vielen beidseitig zugänglichen Bücherregale, die die Lektüre eines ganzen Lebens enthalten und beinahe das gesamte untere Zimmer einnehmen, sie sehen meinen Flügel, sie sehen meine Hingabe an das, was ich tue, und sie bleiben.

Es gab ein Jahr, da war meine komischste Studentin wie das Geißlein im Märchen, das sich in der Uhr versteckte. Ich warf die letzten Gäste um zwei Uhr morgens hinaus, und während sie sich verabschiedeten, bemerkte ich, daß eine Studentin fehlte. »Wo ist unser Clown, wo ist Prosperos Tochter?« sagte ich. »Ach, ich glaube, Miranda ist schon gegangen«, antwortete jemand. Ich ging wieder hinein und begann aufzuräumen, als ich hörte, daß oben eine Tür geschlossen wurde. Die Tür zum Badezimmer. Und Miranda kam die Treppe hinunter, lachend, strahlend, mit einer Art naiver...

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