Aus dem Leben schöpfen - Das Verena-Kast-Lesebuch

Aus dem Leben schöpfen - Das Verena-Kast-Lesebuch

von: Verena Kast

Verlag Herder GmbH, 2016

ISBN: 9783451807510

Sprache: Deutsch

192 Seiten, Download: 386 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Aus dem Leben schöpfen - Das Verena-Kast-Lesebuch



II 


Fühlen: Gefühle verstehen lernen


Das Emotionsfeld Angst – und der Gegenpol der Hoffnung

Auch bei der Angst gilt, was für die anderen Emotionen gilt: Wir haben selten nur Angst. Wir haben es fast immer mit ganzen Emotionsfeldern zu tun. Emotionsfelder meint natürlich auch Sprachfelder, denn Emotionen benennen wir mit mehr oder weniger farbigen Ausdrücken. Zum Emotionsfeld der Angst gehört die Spannung, die Beklemmung, die Panik, die Furcht. Dieses Emotionsfeld Angst geht aber noch wesentlich weiter. Zum Emotionsfeld Angst gehört dann auch Kummer, Zorn, Wut, Aggression. Angst und daraus resultierender Ärger, mit dem Feindseligkeit verbunden ist, sind zwei Emotionen, die sehr eng verschwistert sind. Wenn wir Angst haben, dann wollen wir bekanntlich entweder fliehen oder angreifen. Angreifen aber ist Aggression. Es gibt Menschen, die sehr selten Angst spüren, dafür wesentlich leichter die Aggression. Man hat dann das Gefühl, dass diese Leute immer zornig sind. Sie geben einem den Eindruck von sehr kraftvollen Menschen, und dennoch kann man plötzlich auch dahinter kommen, dass hinter ihrem so leicht erregbaren Zorn Angst steckt; eine Angst, die durch den Zorn abgewehrt wird. Der Zorn ist ja eine Emotion, die vorwärtstreibt, die verändert.

Zur Angst gehört dann auch das Emotionsfeld Angst – Scham – Schuld. Das ist ein sehr wichtiges und ein recht breites Emotionsfeld. Auf der anderen Seite haben wir dann das Emotionsfeld Angst – Mut – Hoffnung. Angst kann geradezu als Gegenpol der Hoffnung gesehen werden, überhaupt als Gegenpol zu all den gehobenen Emotionen, die uns weit machen.29 Angst macht uns eng, Angst lässt uns nicht atmen, Angst gibt uns das Gefühl, eingeschnürt zu sein, ganz im Gegensatz eben zu Freude, zu Inspiration, zu Hoffnung. Diese Emotionen erscheinen im ersten Moment fast unvereinbar mit der Angst, doch es sind ihre Gegenpole. Beide sind auf die Zukunft bezogen. In der Angst haben wir im äußersten Fall den Eindruck, überhaupt keine Zukunft mehr zu haben. Wir fühlen uns nicht mehr getragen, fühlen uns unsicher in diesem Leben, existenziell bedroht. Bei der Hoffnung, da hoffen wir auf eine bessere Zukunft, sogar wider besseres Wissen. Wir entwerfen uns vertrauensvoll auf eine Zukunft hin, die uns noch als verdeckte Vision erscheint und an die wir dennoch zu glauben vermögen. Dabei erfahren wir das Lebensgefühl des Getragenseins.

Aus: Verena Kast, Vom Sinn der Angst. Wie Ängste sich festsetzen und wie sie sich verwandeln lassen

Vom Umgang mit der Angst

Natürlich weiß man, dass man sich der Angst stellen und mit ihr umgehen sollte, dass man sich nur so entwickelt und in der Auseinandersetzung mit den Bedrohungen, die immer da sein werden, kompetent wird. Man weiß dies alles, weicht aber der Angst immer wieder aus; dann traut man sich mit der Zeit überhaupt nichts mehr zu, wird immer ängstlicher, immer lebensuntüchtiger und in der Regel auch immer abhängiger von Menschen, die angeblich besser zu leben verstehen, das Leben besser im Griff haben. Man zieht sich zurück, man entwickelt Tendenzen, alles im Leben kontrollieren zu wollen, und verweigert sich den Wandlungen des Lebens.

Angst gehört zum Menschen, sie ist ein wichtiges Anzeichen dafür, dass wir in einer Situation, die Angst auslöst, achtsam sein müssen, achtsam mit dem Leben umgehen müssen. Angst ist also Emotion, die wir dann erleben, wenn wir uns bedroht fühlen oder ein bedrohliches Ereignis erwarten, uns zugleich aber dieser Situation hilflos ausgeliefert fühlen.

Angst ist ein emotionaler Zustand des Organismus, sie ist gekennzeichnet durch einen betont als unangenehm erlebten Erregungsanstieg. Gleichzeitig nimmt man eine komplexe mehrdeutige Gefahrensituation wahr, in der eine adäquate Reaktion nicht möglich erscheint. Angst setzt dann ein, wenn etwas, das uns persönlich als sehr wertvoll erscheint, in Gefahr ist. Die Angst bringt uns dann dazu, das für uns Wertvolle zu erkennen, es zu retten oder neue Werte zu schaffen. Um das zu können, müssen wir aber zunächst die Angst zulassen. Da die Angst aber als unangenehm erlebt wird und es auch nicht gerade ein gesellschaftlich anerkannter Wert ist, Angst zu haben und sie auch auszudrücken, versuchen wir uns so rasch als möglich von ihr zu befreien. Frauen dürfen etwas eher Angst zulassen als Männer. Ob wir aber Angst zulassen können, entscheidet darüber, ob wir uns verändern und ob wir die Umwelt verändern.

Mut zur Angst ist also gefragt. Selbstverständlich ist damit nicht der ängstliche, ständig zögernde Mensch gemeint, dessen Unentschlossenheit gerade schon die Folge davon ist, dass der Mut zur Angst fehlt, sondern Menschen, die in bestimmten Situationen spüren, dass sie in ihrem Eigensten bedroht sind, dass das Leben jetzt bedroht ist, die betroffen sind von diesem Spüren und Abhilfe schaffen wollen. Je besser unser aktuelles Selbstwertgefühl ist, umso besser können wir die Angst zulassen, weil wir darauf vertrauen, mit ihr auch umgehen zu können.

Der Umgang mit der Angst ergibt sich aus dem Wesen der Angst. Ich werde einige Aspekte herausgreifen. Diese verschiedenen Aspekte der Angst haben jeweils auch verschiedene Therapierichtungen begründet.

Angst äußert sich als Spannung. Insofern wird alles, was uns entspannt, zur Entängstigung beitragen.

Angst setzt dann ein, wenn wir eine komplexe, mehrdeutige Gefahrensituation wahrnehmen, das erfüllt uns mit Ungewissheit. Ungewissheit stiftet Verwirrung. Können wir diese Ungewissheit aushalten, stellt sich nach einiger Zeit wiederum eine neue Gewissheit ein. Alle schöpferischen Prozesse beginnen damit, dass man verunsichert ist, dass man verwirrt ist, dass man aber unbedingt etwas erkennen will und ein Problem lösen möchte. Im schöpferischen Prozess muss diese Verwirrung ausgehalten werden. Verwirrung auszuhalten ist aber kein erstrebenswerter Wert in unserer Gesellschaft: Wir sollen immer ganz schnell wieder Gewissheit haben, den Durchblick haben. Das bedeutet aber oft auch, dass wir keine kreativen Lösungen finden, sondern nur die allernotwendigste Anpassung an die neue Gegebenheit leisten.

In Zeiten der Ungewissheit sind wir auch bereiter, auf Einfälle zurückzugreifen, Träume wahrzunehmen, in der Fantasie etwas auszuprobieren. Das können wir aber alles nur, wenn wir nicht zu sehr Angst haben, wenn die Angst uns nicht zu sehr lähmt. Fühlen wir uns in einer Situation bedroht, sind wir verwirrt, so suchen wir Sicherheit. Das Gefühl der Hilflosigkeit verlangt Hilfe. Wir suchen dann meistens Menschen, auf die wir uns verlassen können, die von der Situation weniger gelähmt sind. Problematisch wird es dann, wenn wir anderen Menschen sozusagen die Verantwortung über unser Leben übergeben.

Wünschenswert wäre es, dass wir Menschen finden, die sich durchaus auch betreffen lassen, die aber soviel Grundvertrauen ins Leben leben – oder durch ein Wir-Gefühl miteinander aufbauen –, dass miteinander die bedrohliche Situation wirklich gesehen werden darf, dass Unsicherheit als Normalität einem Leben gegenüber begriffen wird, in dem nur das Eintreten des Todes gewiss ist, und dass schöpferische Vorschläge zur Veränderung der Situation wahrgenommen und aufgenommen werden können. Das Erleben eines Wir-Gefühls ist dabei außerordentlich wichtig, sind wir doch in Situationen, in denen wir uns ängstigen, in unserer Identität fast vernichtet. Der Verlust der gewohnten Identität kann zum Beispiel so erlebt werden, dass man sich selber nur noch als Angstperson wahrnimmt. Diese sieht bei den verschiedenen Menschen verschieden aus, sie ist aber immer hilflos und meistens auch kopflos. Viele Menschen aber treffen in ihrer Suche nicht ihre Angstperson, sondern immer nur ihre Aggressions- oder Destruktionsperson. Solche Menschen wehren die Gefühle der Angst und der Vernichtung ab, indem sie andere ängstigen und indem sie zerstören. Durch die im zerstörerischen Handeln erlebbare Ichaktivität ist der Selbstwert für eine kurze Zeit stabilisiert, nachfolgende Schuldgefühle allerdings bewirken, dass der Selbstwert erneut unter Druck gerät. Und die erneut auftretenden Angstgefühle werden dann mit noch mehr Destruktivität beantwortet; dadurch entsteht leicht eine Spirale der Destruktivität.

Im Wir-Gefühl hingegen – möglichst entstanden aus der Zugehörigkeit zu Menschen, die von uns wissen, dass wir auch mehr sind als diese Angstperson – finden wir eine gewisse Geborgenheit, die uns auch wieder mehr zu unserem ausgeglicheneren Selbstwertgefühl zurückbringen kann. Dieses Angewiesensein auf das Wir-Gefühl kann sich natürlich auch fatal auswirken, wenn man dieses »Wir« bei Menschen findet, die die anstehenden Änderungen nicht sehen wollen. Leider können Gruppen, die ein sehr einfaches, ideologisches oder ein sehr aggressives Programm haben, leichter ein starkes Wir-Gefühl vermitteln als Gruppen, die sich nicht im Besitz der Wahrheit wähnen, die selber auf der Suche sind, immer wieder auch überprüfen, ob das, was sie vorschlagen, wirklich auch zu verantworten ist. Hier ist auch anzumerken, dass durch das Erzeugen von Angst Menschen sehr leicht manipuliert werden können. Man macht Menschen durch das Schüren von ganz banalen Ängsten unsicher und hilflos: Angst vor Verlust der Arbeit, Angst vor Verlust der Wohnung, Angst, nicht mehr genug Geld zu haben für den Lebensunterhalt, Angst, die Partnerin, den Partner zu verlieren. Zusammen mit einer einfachen Ideologie, die die vermeintlichen Sündenböcke für diese Misere deutlich und eindeutig markiert, verunsichert dies ungemein. Dann wird versprochen, ganz...

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