Religion und Bildung - Ressourcen im Alter? - Zwischen dem Anspruch auf Selbstbestimmung und der Einsicht in die Unverfügbarkeit des Lebens

Religion und Bildung - Ressourcen im Alter? - Zwischen dem Anspruch auf Selbstbestimmung und der Einsicht in die Unverfügbarkeit des Lebens

von: Miriam Beier, Michael Wermke, Hans-Martin Rieger, Holger Gabriel

Evangelische Verlagsanstalt, 2016

ISBN: 9783374045136

Sprache: Deutsch

239 Seiten, Download: 1750 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Religion und Bildung - Ressourcen im Alter? - Zwischen dem Anspruch auf Selbstbestimmung und der Einsicht in die Unverfügbarkeit des Lebens



ALTER(N) WÜRDIG AUSGESTALTEN!
SELBSTBESTIMMUNG UND UNVERFÜGBARKEIT AM BEISPIEL »HIOB«


Ralph Kunz

Der Bibelvers »Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, gelobt sei der Name des Herrn« (Hi 1,21) ist ein fester Bestandteil der jüdischen Bestattungsliturgie. Das Wort hilft denen, die Abschied nehmen, den Verstorbenen Gott zu überantworten. Die Demut und Ehrfurcht, aber auch das Gottvertrauen, die der rezitierte Spruch zum Ausdruck bringt, ist in gewisser Hinsicht sprichwörtlich für die Haltung der Frommen. Hilft eine solche Frömmigkeit auch, die Belastungen des Alter(n)s zu verstehen und zu bestehen? Und ist der Sprecher, der zitiert wird, tatsächlich ein überzeugendes Exempel?

1. DER HERR HAT’S GEGEBEN

1.1 HIOBS THEMA – UNVERSCHULDETES LEID 

Die Aussage »der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen« ist zunächst eine lakonische Feststellung. So könnte man den Satz, für sich genommen, zumindest verstehen. Er erinnert an Statements, die man manchmal auch beim Besuch im Altenheim zu hören bekommt. »Es ist, wie es ist« heißt es dort etwa – oder sinngemäß: »Man muss halt schauen, wie man zurechtkommt.« Manchmal gleicht die Feststellung mit einem Stoßseufzer verbunden auch einer Kapitulationserklärung: »Man kann doch nichts machen«.

1.2 ÜBERPRÜFUNG DES TUN-ERGEHEN-ZUSAMMENHANGS

Man kommt nach 38 Kapiteln Reden und Gegenreden nicht weiter als Hiob in seiner ersten Reaktion auf das Unglück, das ihn trifft. Das Klagen und die Gespräche mit Freunden münden in eine Rede Gottes, die in der Quintessenz dem Satz vom Herrn, der gibt und nimmt, entspricht. Aber auch das erfährt man in der Auseinandersetzung: Wie sich Hiobs Lob in eine bittere Klage verwandelt und wie er den Tag seiner Geburt verflucht, aber Gott doch nicht lästert. In seiner Klage bleibt er ein Beter und mit Gott verbunden. Er appelliert an Gottes Güte und erinnert an sein Wesen. Also besteht Hiob den Test.

Rahmenerzählung

Kap. 1–2

Hiobs Klage und Antwort der Freunde

Kap. 3–37

Gott

Kap. 38–41

Hiob

Kap. 42,1–6

Rahmenerzählung

Kap. 42,7–16

Ist mit der Rahmenerzählung alles gesagt? Man könnte die Lektüre abkürzen und direkt zum Schluss springen: dem zweiten Teil, der von der wundersamen Wiederherstellung des guten Lebens spricht (Hi 42, 7–16). So würde man sich einiges an Lese- und Denkarbeit ersparen. Einige Exegeten haben tatsächlich die Meinung vertreten, die Rahmengeschichte sei eine ältere Fassung eines frommen Märchens und ein Bearbeiter habe die Reden dazwischen geschoben. Die sogenannte »Sandwichthese« wurde aber glaubwürdig widerlegt.11 Man muss das Buch als Ganzes lesen. Die Reden, in denen Hiob coram hominibus und coram deo sein Geschick beklagt, machen keinen Sinn ohne die märchenhafte Erzählung. Diese bildet den Hintergrund für das Hin und Her zwischen dem Leidgeprüften und seinen Freunden. Und sie entfaltet in Form der Auseinandersetzung eine würdige Ausgestaltung im Spannungsfeld von Selbstbestimmung und Unverfügbarkeit – religiös konzentriert und fokussiert auf einen Schmerzpunkt hin!

»Jung bin ich an Jahren, ihr aber seid alt; darum war ich zaghaft und fürchtete mich, mein Wissen euch zu offenbaren. Ich dachte: Das Alter mag reden und die Menge der Jahre Weisheit lehren. Aber der Geist erleuchtet die Menschen, und der Hauch des Allmächtigen macht sie verständig. Die Hochbetagten sind nicht immer weise, noch wissen Greise stets, was Recht ist. Darum sage ich: Höret mir zu; auch ich will mein Wissen offenbaren. Denn siehe, keiner war, der Hiob zurechtwies, keiner von euch erwiderte auf seine Worte […] Hiob ist ein Lästerer. Denn er sagt: »Dem Menschen nützt es nichts, wenn er Gott gefällig lebt.« Darum, ihr Verständigen, höret mir zu! Fern sei es von Gott, dass er Unrecht tue, und vom Allmächtigen, dass er frevle! Nein, er vergilt dem Menschen nach seinem Tun, nach seinem Wandel lässt er’s jedem ergehen. Denn das ist gewiss: Gott tut nicht Unrecht und der Allmächtige verdreht das Recht nicht.«

1.3 HIOB GIBT AUF

Hat Elihu recht? Ist Hiob der exemplarische Fall eines störrischen Sünders? Ist er zu tadeln? Fakt ist, dass Elihus Rede theologisch korrekt ist.12 Er zitiert den Tun-Ergehen-Zusammenhang der Weisheitstradition. Der Gottesfürchtige, der die Thora studiert und gerecht lebt, wird gesegnet. Er ist wie ein Baum an Wasserbächen, der Frucht bringt zu seiner Zeit. Spötter aber sind wie die Spreu im Wind (Ps 1,1 f.).

»Ich weiß, dass du alles vermagst. Nichts, was du willst, ist dir unmöglich. Wer behauptet ohne Einsicht, mein Walten sei finster? Darum habe ich vorgebracht, was ich nicht verstehe, was zu wunderbar ist für mich und was ich nicht begreife. Höre, und ich will reden, ich will dich fragen, und du lehre mich! Vom Hörensagen hatte ich von dir gehört, jetzt aber hat mein Auge dich gesehen. Darum gebe ich auf und tröste mich im Staub und in der Asche.«

Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen und Hiob »gibt auf«. So übersetzt die Zürcher Bibel. Erst danach kommt die Wiederherstellung plus Wiedergutmachung (Hi 42,7–14).

1.4 VERLEGENHEIT(EN) UND AUSLEGUNG(EN)

Was lehrt uns das? Der Rebell, der aufbegehrt, wird wieder zum Dulder, aber im Dulder steckt in Wahrheit ein Rebell, der sich gegen theologische Korrektheiten auflehnt. Dabei geht es um die Würde. Hiob gibt auf, aber er kriecht nicht zu Kreuze. Er fordert Gott heraus, sich als derjenige zu zeigen, als der er sich mit seinem Namen ausgibt: als der Gott der Väter und als einer, der segnet und gesegnet wird: als ein »Ich bin für Euch da« – und nicht nur ein »Es ist wie es ist« – Gott. Der abwesende Gott provoziert Hiob, seinen Freunden zu widersprechen. Er hinterfragt ihre Weisheit. Es ist diese Weisheitskritik des Hiob, die wiederum den Schriftgelehrten sauer aufstößt. Ihre Theologie wird – mit dem genialen Kunstgriff der Einführung einer Himmelsszene – als ein Mutmaßen über Gott dekonstruiert. Die Freunde haben nicht den Schimmer einer Ahnung. Aber der Einblick, der dem Leser hinter die Kulissen gewährt wird, löst die Sache nicht, sondern macht sie nur noch komplexer. Ist Gott am Ende der Bösewicht, dass er alle diese schrecklichen Dinge zulässt?

SELBSTBESTIMMUNG IM KONTEXT DER [UN]VERFÜGBARKEIT 

2.1 WÜRDE AUS SELBSTBESTIMMUNG

Die kurze Auslegung der Hiobsgeschichte lässt also das Spannungsfeld von Selbstbestimmung und Unverfügbarkeit in einem bestimmten Licht – dem Licht der Weisheitskritik – sehen. In einem zweiten Schritt kommen nun Konzepte der Selbstbestimmung zur Sprache. Sie lassen die DNA der rebellischen Anthropologie wiedererkennen, schieben aber die Thematik in andere Referenzrahmen und lassen sie von einer anderen Lichtquelle beleuchtet sein.18

»Diese Haltung der Pietät oder der Würdigung des menschlichen Gegenübers leitet dazu an, bei der Konstruktion des Gegenübers und Verfügung über das Gegenüber Maß an dessen Selbstkonstruktion zu nehmen – im medizinethischen Kontext [wird dies] als »Respekt vor der Autonomie des Gegenübers« bezeichnet. So hat beispielsweise der alte Mensch selbst ein gewichtiges Wort über sein Altsein, seine Hoffnungen und seine Ängste als alter Mensch […] zu sprechen, und die Altersmedizin tut gut daran, diesem Wort Gehör zu schenken.«19

Müller verweist auf die Tradition des deutschen Idealismus, in der sich ein Begriff der Würde herausbildete. Im Reich der Zwecke, sagt Kant, hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was seinen Preis hat, ist durch ein Äquivalent ersetzbar, was über allen Preis erhaben ist, also nicht ersetzbar ist, hat eine Würde.20 Mit anderen Worten: der Selbstzweck ist die Basis der Würde und zugleich das individualethische Leitprinzip einer Behandlung des Menschen. Er kann auch auf das Altern angewandt werden. Das ist zweifellos wichtig, aber hat auch problematische Aspekte. Müller nennt zwei:

»Es ist möglich, dass ein reales Individuum unvernünftige und...

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