Grenzbezirke

Grenzbezirke

von: Gerald Murnane

Suhrkamp, 2018

ISBN: 9783518758793

Sprache: Deutsch

250 Seiten, Download: 1239 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Grenzbezirke



Bevor ich zu dem Hochzeitsempfang zurückkehrte, erinnerte ich mich an eine Stelle bei Franz Kafka, die ich neulich gelesen hatte und bei der es darum geht, dass ein Mensch alles zu seiner Errettung Nötige erfahren könnte, ohne das Zimmer zu verlassen. Bleibe nur lang genug in deinem Zimmer, und die Welt wird ihren Weg zu dir finden und wird sich verzückt auf dem Boden vor dir winden — in dieser Form war mir das Zitat im Gedächtnis geblieben, und ich gewann ihm an jenem Nachmittag die Verheißung ab, dass ich in meiner Vorstellung nur durch den einen oder anderen, mit farbigen Scheiben gerahmten Eingang zu gehen und in meiner Vorstellung auf der einen oder anderen verschatteten Veranda zu warten brauche, bis ich ein Finish eines berühmten Rennens nach dem anderen zu Gesicht bekäme, und zwar in der Vorstellung eines Menschen nach dem anderen in einem zumeist ebenen Bezirk dessen, was ich, spät im Leben, als den Schauplatz der einzigen für mich wertvollen Mythologie anerkennen würde.

Während ich immer noch außerhalb des Hauses im inneren östlichen Vorort war, begann ich zu befürchten, dass ich mich später nicht mehr im Einzelnen an meine Erfahrung auf der Eckveranda erinnern könnte, und noch viel weniger an die Beruhigung, die sie mir brachte. (Ich war ein junger Mann von nicht einmal dreißig, der erst nach vielen Jahren lernen würde, dass er sich an das meiste davon erinnern müsste, was er später möglicherweise brauchen würde.) Es war Mitte Oktober. Ich wusste wenig über Gartenpflanzen, doch hatte ich als Junge bemerkt, dass die Glyzinien gewöhnlich dann blühten, wenn das in den vorigen Abschnitten erwähnte berühme Pferderennen ausgetragen wurde. Malvenfarbene Glyzinienblüten hingen in Trauben längs der Veranda herab, auf der ich gesessen hatte. Ich pflückte ein Büschel und steckte es in meine Jackentasche. Anscheinend fiel mir ein, dass weibliche Gestalten in fiktionalen Werken, die in früheren Zeiten spielten, manchmal gepresste Blüten zwischen Buchseiten hatten. Ich wollte meine Frau später bitten, mir bei der Konservierung der bunten Blütenblätter behilflich zu sein, doch war ich betrunken, als wir zu Hause ankamen, und ich hängte meinen Anzug weg, ohne an die Glyzinie zu denken. Wochen später, als ich mich für den Besuch einer Rennveranstaltung ankleidete, fand ich in meiner Jackentasche die verschrumpelten braunen Überreste einst malvenfarbener Blütenblätter.

Ich berichtete in den vorigen Abschnitten über etwas, das mir auf meinen früheren Reisen zwischen der Hauptstadt und diesem grenznahen Bezirk in den Sinn gekommen war. Seit meiner Ankunft in diesem Bezirk besuchte ich in der letzten Woche die Hauptstadt zum zweiten Mal. In Übereinstimmung mit dem bereits im ersten Satz dieses Prosastücks angegebenen Beschluss versuchte ich während der Reise meine Augen zu hüten. Natürlich musste ich beim Fahren auf meine Umgebung achten, doch vermied ich es, die Wörter auf Wegweisern zu lesen, die auf nicht sichtbare Orte hinwiesen, und ich versuchte nicht einmal, die vielen Ansichten einer weitreichenden Landschaft aufzunehmen, die so oft Gefallen bei mir gefunden hatte. Ich bemerkte immer noch Signale von den Rändern meines Blickfeldes, doch indem ich die Augen stets nach vorne gerichtet hielt, erwartete ich, hauptsächlich von Erinnerungen oder Träumereien eingenommen zu werden.

Ich beabsichtigte, zwei Tage in der Hauptstadt zu verbringen und mich bei einem Mann und seiner Frau aufzuhalten, die seit unserer Kindheit vor nahezu sechzig Jahren meine Freunde waren. Der Mann und seine Frau lebten in einem inneren südöstlichen Vorort, in demselben Haus, in dem der Mann schon vor sechzig Jahren gelebt hatte, als ich ihn zum ersten Mal von dem äußeren südöstlichen Vorort aus, in dem ich damals lebte, besucht hatte. Die Mutter des Mannes war noch in seiner Kindheit gestorben, und er lebte mit seinem älteren Bruder in dem Haus, mit ihrem Vater und einer unverheirateten Frau mittleren Alters, der Cousine ihres Vaters, die für diesen und seine Söhne den Haushalt führte. Nachdem mein Freund als junger Erwachsener von zuhause weggegangen war, besuchte ich das Haus fünfzig Jahre lang nicht mehr, und bei meinem nächsten Besuch dort war es innen gänzlich umgestaltet worden, auch wenn sein äußeres Erscheinungsbild unverändert geblieben war: Die Wände waren immer noch aus weiß gestrichenem Holz und die Eckveranda führte immer noch von der Vordertür zur Seitentür.

Solange ich im Innern des umgestalteten Hauses war, konnte ich mich nicht an sein früheres Aussehen erinnern. Wann immer ich weit genug von dem Haus entfernt war, konnte ich mich an bestimmte Einzelheiten des früheren Inneren erinnern, doch schienen sie zu einem Haus zu gehören, das ich seit meiner Knabenzeit nicht besucht hatte. Bei meinem ersten Besuch des Hauses vor nahezu sechzig Jahren hatte ich in der Vordertür, in der Tür, die vom Ende der Eckveranda nach innen führte, und über den Erkerfenstern mehrerer Zimmer Scheiben farbigen Glases bemerkt. Bei meinem ersten Besuch des Hauses nach einer Abwesenheit von fünfzig Jahren war das farbige Glas das erste Detail, das ich bemerkte. Ich konnte mich nicht an irgendwelche Farben und Muster erinnern, die ich vor Langem gesehen hatte, doch zweifelte ich nicht daran, dass die Scheiben bei der Renovierung nicht ersetzt worden waren. Der Anblick des Glases half mir jedoch keineswegs, meine beiden Erinnerungsreihen wieder miteinander in Einklang zu bringen. Wann immer ich bei meinem Freund und seiner Frau zu Gast war, konnte ich mich überhaupt nicht an das frühere Haus, um es so zu nennen, erinnern. Wann immer mir das Haus aus den Augen war, vermochte ich mich wieder an das frühere Haus zu erinnern, doch als sei es ein ganz anderes Haus als das spätere. (Dies mag vielleicht kaum meines Aufzeichnens wert gewesen sein, außer dass es eine Behauptung rechtfertigt, die der Erzähler des einen oder anderen fiktionalen Werks aufstellt, in das ich vielleicht vor dreißig Jahren zum letzten Mal geschaut und dessen Titel ich vergessen habe: Was wir Zeit nennen, ist nichts anderes, als dass wir Ort auf Ort gewahren, während wir uns unaufhörlich durch den endlosen Raum bewegen.) Was das farbige Glas betrifft, so sah ich die gleichen Farben und Formen in jedem geistigen Bild, nur nicht in unterschiedlichen Umgebungen. Mehr noch, jedes der beiden Bilder farbiger Scheiben berührte mich unterschiedlich.

Wann immer ich mich an das Haus von fünfzig oder mehr Jahren zuvor erinnerte, schienen diese bunten Formen von Laub und Stängeln und die anderen Formen, die mir nichts bedeuteten — dann schienen diese Formen mit den alten Zeiten verknüpft, wie ich die paar Dekaden genannt hätte, die vom Jahr meiner Geburt zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zurückführten. Die Frau, die für die mutterlosen Jungen und ihren verwitweten Vater den Haushalt führte, sie, die von meinem Freund stets Tante genannt wurde, hatte graue Haare und spähte durch eine Brille mit dicken Gläsern. Solange ich im Haus war, sagte sie wenig zu meinem Freund und nichts zu mir. Mein Freund hatte mir erzählt, sie ginge jeden Abend, sobald sie das Geschirr gespült und abgetrocknet hatte, auf ihr Zimmer. Sie würde nie Radio hören. Man nahm an, dass sie in ihrem Zimmer viel Zeit mit Bibellektüre verbrachte. Jeden Sonntag besuchte sie eine protestantische Kirche. Das war alles, was ich über die Frau wusste. Wenn ich an die alten Zeiten dachte, hatte ich das Bild einer jüngeren Version der grauhaarigen Frau im Sinn, wie sie eine Sonntagsschulklasse unterrichtete oder während sie an einem Sonntagabend am Klavier saß und ihren Eltern und Geschwistern Kirchenlieder vorspielte oder während sie täglich die Fotografien auf dem Klavier und auf dem nahen Kaminsims abstaubte, von denen eine die Fotografie eines jungen Mannes in Militäruniform gewesen sein mochte, eines Freunds der Familie, der ihr einmal von seinem Truppentransporter geschrieben hatte und einmal aus Ägypten und der ihr vielleicht den Hof gemacht haben könnte, wie sie oft vermutete, wenn er bloß aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt wäre. Wann immer ich bei meinen Besuchen vor langer Zeit die farbigen Glasscheiben zu Gesicht bekommen hatte, verspürte ich ein sanftes Glühen. Die blass gefärbten Blütenformen hätten aus dem entlegenen Garten kommen können, der in der Vorstellung einer einsamen grauhaarigen Frau immer dann erschien, wenn sie ihre traurigen protestantischen Gebete sprach, in der Hoffnung, sich im Paradies mit ihrem verlorenen jungen Bewerber zu treffen.

Bei meinen Besuchen in dem restaurierten Haus, um es so zu nennen, schaute ich unverblümt und oft auf das farbige Glas. Ich begriff, dass jede Einzelheit dort genau so war, wie sie mir vor fünfzig Jahren erschienen war, und doch erlangte ich durch den Anblick solcher Einzelheiten eine gewisse Beruhigung und Befriedigung. Mein...

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