Erinnerung eines Mädchens - Nobelpreis für Literatur 2022

Erinnerung eines Mädchens - Nobelpreis für Literatur 2022

von: Annie Ernaux

Suhrkamp, 2018

ISBN: 9783518758878

Sprache: Deutsch

140 Seiten, Download: 1970 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Erinnerung eines Mädchens - Nobelpreis für Literatur 2022



Es war ein Sommer


Es war ein Sommer ohne meteorologische Besonderheiten, der Sommer von Charles de Gaulles Rückkehr, des neuen Francs und der neuen Republik, Pelé wurde Weltmeister, Charly Gaul gewann die Tour de France und Dalida sang Mon histoire, c’est l’histoire d’un amour.

Ein endloser Sommer, wie alle bis zum fünfundzwanzigsten Lebensjahr, bevor sie sich zu immer schneller vergehenden Sommern verkürzen, deren Reihenfolge man verwechselt, weil einem nur die besonders heißen, trockenen im Gedächtnis bleiben.

Der Sommer 1958.

Wie in den vorigen Sommern fuhr ein kleiner Teil der Jugend, der wohlhabendste, mit seinen Eltern an die Côte d’Azur in die Sonne, ein anderer Teil, der gleiche, der aber auf ein Gymnasium oder eine katholische Privatschule ging, nahm in Dieppe die Fähre, um seine Englischkenntnisse zu verbessern, nach sechs Jahren stammelnder Versuche, die Sprache aus Schulbüchern zu lernen. Die Übrigen, Oberschüler, Fachschülerinnen und Studenten, hatten lange Ferien, wenig Geld und fuhren in eine der Ferienkolonien, die überall in Frankreich auf Landsitzen und sogar auf Schlössern organisiert wurden, um Kinder zu betreuen. Wohin es auch ging, die Mädchen legten eine Packung Damenbinden in ihre Koffer und fragten sich mit einer Mischung aus Angst und Begehren, ob sie in diesem Sommer zum ersten Mal mit einem Jungen schlafen würden.

In dem Sommer wurden auch Tausende von Rekruten nach Algerien geschickt, um die staatliche Ordnung wiederherzustellen, oft waren sie zum ersten Mal von zu Hause weg. Sie schrieben Dutzende Briefe, in denen sie von der Hitze erzählten, dem Djebel, den Douars und dem Analphabetismus der Araber, die nach hundert Jahren Besatzung immer noch kein Französisch sprachen. Sie schickten Fotos von sich in kurzen Hosen, lachend, mit Freunden, in einer trockenen, felsigen Landschaft. Sie sahen aus wie Pfadfinder auf Expedition, man hätte meinen können, sie wären im Urlaub. Die Mädchen stellten keine Fragen, als würden die »Kampfhandlungen« und »Hinterhalte«, von denen Zeitungen und Radio berichteten, nicht die Jungen betreffen, sondern Fremde. Sie fanden es selbstverständlich, dass die Jungen ihre Pflicht taten und, so ging jedenfalls das Gerücht, ihre körperlichen Bedürfnisse an einer angepflockten Ziege stillten.

Sie kamen auf Heimaturlaub, brachten Halsketten mit, eine Hand der Fatima, ein Kupfertablett und mussten wieder zurück. Sie sangen »Der Tag, als die Entlassung kam« auf die Melodie von Gilbert Bécauds Der Tag, als der Regen kam. Und als sie dann endlich wieder zu Hause waren, in allen Ecken Frankreichs, mussten sie sich neue Freunde suchen, die nicht im »bled« gewesen waren, die weder von »Fellaghas« noch von »algerischem Pack« sprachen, die vom Krieg unberührt waren. Sie waren desorientiert, stumm. Sie wussten nicht, ob das, was sie getan hatten, gut oder schlecht war, ob sie stolz sein oder sich schämen sollten.

Es gibt kein einziges Foto von ihr aus dem Sommer 1958.

Nicht einmal von ihrem Geburtstag, dem achtzehnten, den sie dort gefeiert hat, in der Kolonie – die Jüngste von allen Betreuerinnen und Betreuern –, und der auf einen ihrer freien Tage fiel, sodass sie am Nachmittag in die Stadt gehen und ein paar Flaschen Sekt, Löffelbiskuits und Chamoix-Orangenplätzchen kaufen konnte, aber dann schauten nur eine Handvoll Leute in ihrem Zimmer vorbei, um ein Glas zu trinken und etwas zu knabbern, und sie verabschiedeten sich schnell wieder – vielleicht gehörte sie da schon zu denen, die man eher mied, oder zumindest zu denen, für die man sich nicht groß interessierte, schließlich hatte sie weder einen Plattenspieler noch Schallplatten mit in die Kolonie gebracht.

Wer von denen, die im Sommer 1958 im Ferienlager von S im Departement Orne mit ihr zu tun gehabt haben, erinnert sich heute noch an sie, an dieses Mädchen? Wahrscheinlich niemand.

Sie haben das Mädchen vergessen, so wie sie sich gegenseitig vergessen haben, Ende September, jetzt alle wieder verstreut, zurückgekehrt an ihre Fachschule, Sportakademie oder Universität irgendwo im Land oder zum Wehrdienst nach Algerien geschickt. Die meisten zufrieden, dass sie dank der Kinderbetreuung finanziell und moralisch gewinnbringende Ferien verbracht hatten. Sie selbst wahrscheinlich schneller vergessen als die anderen, wie eine Anomalie, einen Verstoß gegen die Vernunft, eine Störung der Ordnung – etwas Lächerliches, mit dem man sich nicht das Gedächtnis belasten will. Abwesend in ihren Erinnerungen an den Sommer 58, von denen heute vielleicht nur schemenhafte Umrisse und vage Orte übriggeblieben sind, und ihre Lieblingswitze, »Schwarze, die nachts in einem dunklen Keller miteinander kämpfen« und »Heute keine Vorstellung«.

Verschwunden also aus dem Bewusstsein der anderen, all diesen Bewusstseinen, die in diesem einen Sommer an diesem einen Ort im Departement Orne miteinander verschränkt waren, der anderen, die über Gesten, Handlungen und Sinnlichkeit der Körper urteilten, ihres Körpers. Die sie bewerteten und abwiesen, mit den Achseln zuckten oder die Augen verdrehten, wenn ihr Name fiel, und einer von ihnen dachte sich zu ihrem Vornamen einen Kalauer aus, auf den er sehr stolz war: »Annie, qu’est-ce que ton corps dit?«, »Annie, was sagt dein Körper?«, was genauso klang wie der Name der Sängerin Annie Cordy, haha!

Endgültig vergessen von den anderen, die in der französischen Gesellschaft oder irgendwo auf der Welt verschwunden waren, verheiratet, geschieden, allein, Großeltern in Rente mit grauem oder gefärbtem Haar. Nicht wiedererkennbar.

Ich wollte dieses Mädchen auch vergessen. Sie wirklich vergessen, das heißt, nicht mehr das Bedürfnis haben, über sie zu schreiben. Nicht mehr denken, ich muss über sie schreiben, über ihr Begehren, ihren Wahn, ihre Idiotie und ihren Stolz, ihren Hunger und ihr versiegtes Blut. Es ist mir nie gelungen.

Immer wieder diese Sätze in meinem Tagebuch, Anspielungen auf »das Mädchen von S«, »das Mädchen von 58«. Seit zwanzig Jahren steht »58« in meinen Notizen zu jedem neuen Buch. Das ist der fehlende Text. Immer aufgeschoben. Die unbeschreibliche Leerstelle.

Ich bin nie über wenige Seiten hinausgekommen, außer einmal, in einem Jahr, als der Kalender auf den Tag genau dem von 1958 entsprach. Am Samstag, dem 16. August 2003 begann ich zu schreiben: »Samstag, 16. August 1958. Ich trage eine Jeans, die bei Elda in Rouen 10 000 Francs gekostet hat und die ich Marie-Claude für 5000 abgekauft habe, und einen ärmellosen Pulli mit blau-weißen Querstreifen. Ich bin zum letzten Mal im Besitz meines Körpers.« Ich schrieb jeden Tag, sehr schnell, ich bemühte mich, alles aufzuschreiben, was mir von dem entsprechenden Tag des Jahres 1958 einfiel, alle Einzelheiten, völlig ungeordnet. Als könnte dieses taggenaue, fortwährende Schreiben den Abstand von fünfundvierzig Jahren am besten überbrücken, als würde mir die Übereinstimmung des Datums direkten Zugang zu diesem Sommer verschaffen, so leicht, wie ich von einem Zimmer ins nächste gehe.

Wegen der ständigen Verzweigungen, wegen der Flut an Bildern und Worten geriet ich bald in Verzug. Ich kam mit dem Schreiben nicht hinterher, es gelang mir nicht, die Zeit des Sommers 58 in den Kalender des Jahres 2003 zu zwängen, sie uferte ständig aus. Bald stellte sich das Gefühl ein, dass ich nicht wirklich schrieb. Ich sah ganz klar, dass diese Seiten, dieses Inventar in einen anderen Zustand überführt werden musste, ich wusste nur nicht in welchen. Ich suchte auch nicht danach. Im Grunde genoss ich es einfach, die Erinnerungen hervorzuholen. Ich verweigerte mich dem Schmerz einer Form. Nach fünfzig Seiten gab ich auf.

Seitdem sind über zehn Jahre vergangen, elf Sommer, die den Abstand zum Sommer 1958 auf fünfundfünfzig Jahre haben anwachsen lassen, mit Kriegen, Revolutionen, explodierenden Atomkraftwerken, unzähligen Vorfällen, die mehr und mehr in Vergessenheit geraten.

Die Zeit vor mir wird kürzer. Irgendwann wird es ein letztes Buch geben, so wie es einen letzten Geliebten gibt und einen letzten Frühling, aber vorher deutet nichts darauf hin. Der Gedanke, ich könnte...

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