Vergisst mich Gott, wenn ich Gott vergesse? - Demenz und Glaube

Vergisst mich Gott, wenn ich Gott vergesse? - Demenz und Glaube

von: Tim van Iersel

Brunnen Verlag Gießen, 2020

ISBN: 9783765575822

Sprache: Deutsch

112 Seiten, Download: 1089 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Vergisst mich Gott, wenn ich Gott vergesse? - Demenz und Glaube



1Warum?


„Als ich die Diagnose Demenz bekam, fragte ich nur: Warum?“, erzählt sie mir. „Warum ich? Warum lässt Gott es zu?“ Es bringt ihren Glauben ins Wanken. „Wissen Sie es, Herr Pfarrer? Warum?“

Vielleicht hat man Sie das auch schon gefragt: Wie kann man an einen Gott glauben, der sich Liebe nennt, wenn man doch überall um sich herum sieht, wie viel Schreckliches es auf der Welt gibt? Vielleicht haben Sie diese Frage auch schon selbst gestellt. Kann ich überhaupt noch glauben, wenn ich jetzt mit Demenz konfrontiert bin? Wie kann mein Glaube mir helfen in dieser gottverlassenen Situation?

Ich frage auch so. Bei meiner Arbeit als Seelsorger in verschiedenen Altenheimen sehe ich jeden Tag, welches Leid Demenz verursachen kann. Ich begegne Menschen voller Angst und solchen, die ihre Lieben nicht mehr erkennen. Oder aber ich spreche mit Angehörigen, die ihre Nächsten nicht wiedererkennen, weil die demenzkranke Person jetzt so anders ist als früher.

In der niederländischen Interviewsendung Het Vermoeden6 (Die Vermutung) berichtet Christa Reinhoudt davon. Christa ist 47 Jahre alt und damit in der Blütezeit ihres Lebens, wie man meinen könnte. Doch das ist bei ihr nicht der Fall. Sie erzählt: „Es fing damit an, dass ich Dinge vergaß, und dabei hatte ich doch immer ein so gutes Gedächtnis. Ich vergaß sogar zu essen. Und andere bemerkten, dass ich ihnen immer wieder dasselbe erzählte.“ Christa ist Seelsorgerin und aufgrund ihrer Berufserfahrung ahnt sie allmählich, was mit ihr los ist. Sie lässt sich untersuchen und tatsächlich stellt sich heraus, dass sie Demenz hat. Das ist sehr selten in diesem frühen Alter. Aber sie muss damit leben, so schwer es ist. „Früher hatte ich Pläne für die Zeit nach meiner Pensionierung. Daran brauche ich jetzt nicht mehr zu denken.“

Wenn es einen Gott gibt, warum gibt es dann Demenz? Leid, das wir selbst verursachen, können wir uns vielleicht noch damit erklären, dass wir selbst schuld daran sind. Aber bei Krankheiten, besonders wenn sie sich so früh bemerkbar machen wie bei Christa, bleibt die Frage: Warum?

Die Frage


Auch wenn sie regelmäßig gestellt wird, ist es sinnvoll, einmal zu überlegen, woher diese Frage kommt und ob es eine gute Frage ist.

Zunächst: Wo kommt diese Frage her? Nach dem Theologen John Swinton7, der sich lange damit beschäftigt hat, ist es vor allen Dingen eine moderne Frage, eine Frage der Aufklärung, jener Zeit und Strömung des 18. Jahrhunderts, die bis heute unser Denken bestimmt.

In der Aufklärung rückt das Individuum in den Mittelpunkt des Interesses. Nicht länger werden die Gemeinschaft, der soziale Verband oder Gott als Zentrum der Welt angesehen, vielmehr kommt jetzt das autonome Individuum in den Blick. Das ist eine Entwicklung, die bitter nötig war. Denn das Individuum wurde in der Zeit davor einfach übergangen oder von einer alles bestimmenden Elite dominiert. Endlich durfte jeder selbst entscheiden, was für ihn oder sie gutes Leben bedeutete. Das war eine enorme Verbesserung.

In der Zeit der Aufklärung nahm auch die Bedeutung des Denkens zu. Der Philosoph Descartes hat das in seinem berühmten Satz „Ich denke, also bin ich“8 auf den Punkt gebracht. Dadurch, dass wir denken können, sind wir Mensch. Denkend bewältigen wir unser Leben. Das ist im Sinne der Aufklärung der angemessene Weg. Das Denken bestimmt unser Menschsein und alle Fragen können denkerisch, rational gelöst werden.

Auch mit Gott wird so verfahren. Gott, so meint man, kann man vor allen Dingen denkend näherkommen. Die Frage nach dem Leiden, nach Krankheiten, nach dem „Warum“ meint man vor allen Dingen argumentativ beantworten zu können.

Wie können wir von einem allmächtigen und liebevollen Gott sprechen, wenn es gleichzeitig Leiden und Böses in der Welt gibt? Der berühmte Philosoph David Hume hat es im 18. Jahrhundert brillant formuliert:

Wenn Gott den Willen hat, Leiden zu verhindern, und er kann es nicht: dann ist Gott ohnmächtig. Wenn Gott Macht hat, Leid zu verhindern, aber er will es nicht: dann ist Gott böswillig. Wenn Gott sowohl die Macht als auch den Willen hat, Leid zu verhindern: Warum gibt es dann Leiden in der Welt?9

Ja warum? Warum ich? Oder sogar: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“10

Christa, die so früh dement wird und schon eine Tochter verloren hat, stellt diese Frage im Blick auf ihr Leben. Als die Interviewerin sie fragt: „Denken Sie manchmal: Warum ich?“, antwortet Christa: „Natürlich, immer wieder. Ich finde es sehr ungerecht. Schon der Tod meiner Tochter hat mir gereicht. Und jetzt noch das. Ich kann es nicht fassen.“

Wie gerne hätten wir für Christa, für viele andere und auch für uns selbst eine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Warum.

Unzureichende Antworten


Vielleicht ist die Demenz ein Mittel, das uns hilft, uns als Menschen weiterzuentwickeln. Wir sagen nach einer Krankheit oder einer Phase, in der wir einen Angehörigen gepflegt haben, manchmal: „Es hat mich bereichert. Ich bin weiser geworden.“ Und manchmal haben wir sogar das Gefühl, Gott näher gekommen zu sein. Dadurch wird die Demenz zu etwas Gutem. Sie ist dann eine Art Segen durch die Hintertür, wofür man sogar dankbar sein muss. Trauer, Schmerz und Mühsal werden aber ignoriert.

Deshalb tut diese Antwort oftmals sehr weh.11 Natürlich kann eine Krankheit oder die Fürsorge für einen Kranken unseren Charakter prägen. Und natürlich können wir manchmal sagen: „Die Krankheit hat mich reicher gemacht.“ Aber das ist eher eine Begleiterscheinung, nicht die Begründung.

Wie viel Schmerz diese Antwort bereiten kann, erleben wir am eigenen Leib, wenn uns jemand direkt und ohne nachzudenken ins Gesicht sagt: „Ja, es ist wirklich schlimm. Aber es ist doch eine wichtige Lebenserfahrung, die dich klüger macht.“ Oder: „Du lernst dadurch, die wichtigen Dinge des Lebens mehr zu schätzen.“ Man fühlt dann sehr direkt, dass das keine hilfreiche Reaktion ist. Im Gegenteil: Sie schmerzt und jemand richtet damit mehr Unheil an, als Gutes zu bewirken.

Vielleicht ist Demenz die Folge des Sündenfalls? Weil Adam und Eva damals in die Irre gegangen sind, haben wir jetzt das Nachsehen. Die ersten Menschen machten einen Fehler und jetzt muss die gesamte Menschheitsfamilie die Verantwortung dafür übernehmen. Oder sogar ich als einzelner Mensch. So empfindet es Christa, die im Fernsehinterview fragt: „Was habe ich in meinem Leben falsch gemacht, dass ich so viel abbekomme?“ Vor Kurzem erzählte mir eine Frau, deren Partner schwer erkrankt ist, dass sie ständig Angst hat, etwas Falsches zu tun. Sie hat Angst, dass ihr Partner dann noch kränker wird.

Wenn es so wäre, würde das bedeuten, dass ein Mensch selbst schuld ist an seiner Krankheit.12 Die Krankheit ist dann eine verdiente Strafe. Sie wird begleitet von Schuldgefühlen und dem Eindruck, dass man nicht klagen darf, denn man ist ja selbst für sein Los verantwortlich. Die Demenz ist Folge deiner eigenen Fehler und des Fehltritts der ersten Menschen.

Auch diese Antwort ist schmerzhaft. Die Krankheit ist hier schlicht und einfach der Fehler des Menschen selbst. Mit Gott hat sie nichts zu tun. Klagen ist nicht angebracht. Die Stimme der Kranken und Pflegenden wird erstickt.

Glücklicherweise sagt Christa im Interview: „Daran glaube ich nicht.“

Im Grunde bewirken beide Antworten mehr Negatives als Positives. Sie ähneln sehr den Versuchen der Freunde Hiobs im gleichnamigen Buch der Bibel. Hiob erlebt unendliches Leid und seine Freunde scheinen sehr gut zu wissen, warum. Aber auch damals war schon deutlich: Die allzu einfachen Antworten helfen nicht weiter.

Und so bleibt die Frage im Raum stehen: Warum?

Die frühe Kirche


So naheliegend die Frage auch ist, warum ist es eigentlich so wichtig, eine Antwort darauf zu finden?, überlegt der genannte Theologe John Swinton.13

Ist es nicht verwunderlich, dass Christen die Liebe und die Macht Gottes infrage stellen? Dass die Welt geschaffen ist, bedeutet doch, dass das Leben einen Grund und ein Ziel hat. Uns gibt es nicht einfach so. Wir sind nicht aus Zufall hier, sondern mit einer Bestimmung. Gott setzt sich dafür ein. Er hat seinen Sohn gesandt, damit wir in Liebe leben, in Liebe zu Gott, zueinander und zu uns selbst.

Es passt zu unserer Kultur nach der Aufklärung anzunehmen, dass jedes Problem durch intellektuelles Denken und wissenschaftliche Erkenntnis gelöst werden kann. So kommt es auch zu der Frage nach dem Warum. Eigentlich ist es eine verblüffende Reihenfolge: Zuerst überlegen wir rational, ob Gott vertraut werden kann, und dann...

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