Selbstständigkeit älterer Menschen - Lehrbuch zur praktischen Umsetzung des umfassenden Pflegebedürftigkeitsbegriffs, Band 3

Selbstständigkeit älterer Menschen - Lehrbuch zur praktischen Umsetzung des umfassenden Pflegebedürftigkeitsbegriffs, Band 3

von: Susette Schumann, Susette Schumann

Kohlhammer Verlag, 2020

ISBN: 9783170385108

Sprache: Deutsch

76 Seiten, Download: 3108 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Selbstständigkeit älterer Menschen - Lehrbuch zur praktischen Umsetzung des umfassenden Pflegebedürftigkeitsbegriffs, Band 3



1          Darstellung einer methodischen Vorgehensweise: den Einzelfall verstehen


 

 

 

Den Einzelfall verstehen

Den Einzelfall verstehen: es stellt sich zu Beginn die Frage, was im Zusammenhang mit Selbstbestimmung des älteren Menschen als »Einzel« und was als »Fall« bezeichnet werden kann?

»Einzel« kann für ein singuläres Ereignis, eine individuelle Situation, einen persönlichen Wunsch, ein persönliches Ziel, eine persönliche Entscheidung, für eine am einzelnen älteren Menschen ausgerichtete professionelle Aufgabe, Anforderung und deren erzieltes Ergebnis stehen. Grundlage ist die Einschätzung der persönlichen Entscheidungskompetenz der älteren Menschen zu den persönlichen Vorstellungen, um die persönliche größtmögliche Selbstständigkeit und damit Unabhängigkeit zu leben.

Als »Fall« kann etwas bezeichnet werden, womit eine Person rechnen muss, z. B. eine bestimmte Entscheidung treffen zu müssen oder das Auftreten oder Vorhandensein einer Erkrankung oder Einschränkung in Alltagskompetenzen wie der Selbstständigkeit, die der professionellen Unterstützung bedarf.

Person-orientierter Ansatz

Das »Verstehen« des Einzelfalls als person-orientierter Ansatz bezieht sich auf die Wahrnehmung und die Deutung von verbal kommunizierten Worten, als beobachtete Handlungen oder Situationen als Ausdruck nonverbaler Kommunikation. Dazu zählt, etwas sowohl kognitiv als auch intuitiv zu erfassen oder zu durchdringen, etwas deutlich wahrnehmen zu können, eine gute, vom gegenseitigen Verständnis getragene Beziehung zu haben oder etwas gut und sicher zu können.

Den »Einzelfall verstehen« zeichnet sich deshalb durch seine facettenreiche Bedeutung aus, die sich mithilfe verschiedener Methoden erschließen lässt ( Abb. 1).

Abb. 1: Chronologie und inhaltliche Bedeutung des Verstehens des Einzelfalls

Kennenlernen durch Wahrnehmen und Erkunden

Der erste Schritt ist das Kennenlernen und das Wahrnehmen einer Person oder einer Situation durch die Kommunikation miteinander. Sie kann verbal, nonverbal oder eine Mischung aus beidem sein. Im Laufe der Kommunikation sollen die persönlichen Wünsche und auch die Ziele des älteren Menschen deutlich werden. In der Regel wird er sehr ausführlich das aktuelle Problem bei der Alltagsgestaltung schildern und das bietet die Möglichkeit die persönliche Situation, aber auch den eigenen Leidensdruck zu schildern. Aus diesen Schilderungen lassen sich entscheidungsrelevante Sachverhalte ableiten.

Eine Besonderheit im Bereich der Selbstständigkeit älterer Menschen stellt neben der Wahrnehmung die Möglichkeit der Erkundung einer Situation, des körperlichen Zustands, des Mobilitätsstatus und die Integration in die anschließende pflegerische Befundung dar. Darunter kann die eingehende Analyse mithilfe von standardisierten Assessments von Bewegungsmustern und ihren Voraussetzungen, wie z. B. Kondition und Koordination verstanden werden.

Erweiterung des persönlichen Mobilitätsradius

Die Pflegende nimmt im ersten Schritt diese Schilderungen bzw. Informationen von den älteren Menschen auf, erfasst eigene Informationen und deutet sie aus der Perspektive des älteren Menschen und aus ihrer pflegefachlichen Perspektive und bietet die gemeinsame Erarbeitung von individuellen pflegerischen Befunden an, um die Basis für Entscheidungen über Interventionen zur Erlangung der größtmöglichen Mobilität, der Vergrößerung des Mobilitätsradius und damit von Selbstständigkeit zu schaffen.

Gemeinsame Entscheidungsfindung zur Lösung des identifizierten Problems

Der zweite Schritt, die gemeinsame Suche nach Entscheidungen zur Problemlösung oder Förderung von Ressourcen, ist die gemeinsame Suche nach einer Entscheidung für die Lösung des identifizieren Problems oder der gezielten Förderung von Ressourcen und Kompetenzen. Die gemeinsam erarbeitete und ausgehandelte Entscheidung und deren Umsetzung begründet eine Beziehung oder ein Arbeitsbündnis auf Zeit, das im weiteren Verlauf die Stärkung der individuellen Selbstständigkeit der älteren Menschen zum Ziel hat.

Kontinuierlicher Verstehensprozess

Die Schritte der Kommunikation und der Befundung sind begleitet von einem kontinuierlichen Verstehensprozess, der nie abgeschlossen sein wird, denn jede neue Information, Situation, jedes neue Ziel kann den Entscheidungsprozess verändern und seine Evaluation nach sich ziehen. Konsequenterweise ändern sich dann auch die pflegerischen Interventionen, die eng mit der Förderung der Selbstständigkeit verknüpft sind.

Deutung der Kommunikation und der Handlungen

Der Verstehensprozess ist sehr vielschichtig und kann als drei sich beeinflussende Aspekte gesehen werden: in der Kommunikation findet die Deutung von Worten und Handlungen beider Gesprächspartner statt. Jeder der Beteiligten hat allerdings seine eigene Sicht auf die Situation oder auf die Person ihm gegenüber. Um diese unterschiedlichen Perspektiven abzugleichen und sich über das richtige Verständnis zu vergewissern, ist die Deutung der Kommunikation und der Handlungen wesentlich.

Aushandlungsprozess

Damit wird es möglich, die individuelle Wahrnehmung des älteren Menschen und die professionelle der Pflegenden in Übereinstimmung zu bringen oder Diskrepanzen zu benennen. Hier setzt dann der oben benannte Aushandlungsprozess an.

Professionelle Begleitung der Förderung der Selbstständigkeit

Der Verstehensprozess ist auch der Beginn einer Beziehungsgestaltung zwischen den Beteiligten. Das Besondere an dieser Beziehung ist die notwendig gewordene professionelle Begleitung zur Förderung der Selbstständigkeit. Die Kombination aus einer Beziehung zwischen den Beteiligten für eine bestimmte Zeit als Begleitung zur persönlichen Stärkung und die gemeinsame Zielerreichung im Sinne eines Arbeitsbündnisses ist von einer hohen Intensität geprägt.

Pflegefachliche und methodische Kompetenz

Verstehen bedeutet aber auch, Fachkompetenz zu besitzen, um alle pflegefachlichen Anforderungen professionell erfüllen zu können, also sein »Handwerk« zu verstehen. Dazu gehört die pflegefachliche und methodische Kompetenz, um auf eine Vielzahl fachlicher Vorgehensweisen zurückgreifen zu können. Für die Förderung der Selbstständigkeit der älteren Menschen bedeutet dies auch, Anforderungen des Alltags gedanklich vorweg zu nehmen, um bei verschiedenen Mobilitätsanforderungen die jeweils persönlich angepasste Mobilitätsoption und das dazu erforderliche Training zu identifizieren.

Aktiv gelebte Selbstständigkeit

Einen Einzelfall zu verstehen und zu deuten, um im weiteren Verlauf des Arbeitsbündnisses zur größtmöglichen Unabhängigkeit zu kommen, bedarf der Stärkung der Selbstständigkeit für die älteren Menschen. Diese Voraussetzung bildet die Grundlage für eine aktiv gelebte Mobilität und damit Selbstständigkeit. Im Rahmen von gesundheitlichen und funktionellen Einschränkungen, die oft mit Risiken oder Komplikationen einhergehen können, führt das Verständnis des Einzelfalls nicht selten in ein Spannungsfeld. Das Abwägen zwischen einem offensichtlichen Nutzen, aber auch einem möglichen zukünftigen Schaden, führt in eine Konfliktsituation. Um diese Situation aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und um zu einer ausgewogenen gemeinsamen Entscheidung zu kommen, bietet sich eine Fallbesprechung an. Sie kann als hermeneutische oder ressourcenorientierte Fallbesprechungen und als eine pflegerische Befundung angelegt sein.

1.1       Das hermeneutische Verstehen des Einzelfalls


Verstehens- und Erkenntnisinteresse

Der verstehende Zugang zur aktuellen Situation des älteren Menschen als Einzelfall, kann unterschiedlich gestaltet werden. Zum einen ist die Möglichkeit gegeben, sich auf einzelne Aspekte zu konzentrieren oder zum anderen den Einzelfall so umfänglich wie möglich zu erfassen. Die Wahl der Verstehensmethode hängt vom Verstehens- und Erkenntnisinteresse hinsichtlich der Lebenssituation und des Lebensumfelds der älteren Person ab. Sie hängt auch von den kommunikativen Kompetenzen der älteren Menschen ab. Ist der ältere Mensch in der Lage, mithilfe seiner verbalen Kommunikationsmöglichkeiten die vorhandene und angestrebte Selbstständigkeit präzise zu schildern, ist das Verstehen seiner Äußerungen angebracht. Ist der ältere Mensch nicht in der Lage zu kommunizieren, treten an die Stelle seiner Äußerungen die Schilderung der Beobachtungen und...

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