Papa stirbt, Mama auch

Papa stirbt, Mama auch

von: Maren Wurster

Hanser Berlin, 2021

ISBN: 9783446271845

Sprache: Deutsch

160 Seiten, Download: 1772 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Papa stirbt, Mama auch



Spuren


Ist es der Urlaub, in dem ich das Foto von euch mache? Ich versuche, mich an das Hotelzimmer zu erinnern, es zu rekonstruieren. Ich starte von dem niedrigen Couchtisch aus, auf dem der Blumenstrauß stand und neben dem ihr euch umarmt habt, setze den Raum zusammen. Es ist dieses Zimmer, dieser Urlaub, in dem ihr nicht da seid, als ich nachts aufwache.

Irgendetwas ist kaputtgegangen, Glas splitterte. Ich liege in einer Art Nische, aber ich kann euer Doppelbett sehen. Die Decken liegen zu flach auf, als dass ihr euch darunter befinden könntet. Ich überprüfe, was ich schon weiß, zerwühle eure Bettwäsche. Der Wind rüttelt an dem gekippten Fenster, bläst und pfeift durch den schmalen Spalt durch. Ich weine. Ich gehe aus dem Hotelzimmer raus, die Tür drückt sich hinter mir zu und schiebt mich in einem langen Gang. Er ist zu einer Seite offen. Ich bin gerade groß genug, dass ich über die halbhohe Mauer und die vielen Stockwerke runter auf den Eingang des Hotels sehen kann. Die Nacht wirkt heftig, fast schon gewaltig auf mich. Fahnen schlagen wild an die Masten, es klackert und klirrt. Eine große Treppe ist unten, sie führt zum Hotel hin. Ein Mann läuft die Stufen entlang, sieht zu mir hoch und ruft mir etwas zu, das ich nicht verstehe. Er wirkt wütend und fuchtelt mit den Armen in der Luft. Auf meiner Seite des Gangs sind mehrere Türen und am Ende eine Glastür. Durch die kommt ein anderer Mann. Schmal ist er und hat längere, dunkle Haare. Er geht auf mich zu und ich weiß, dass er wegen mir gekommen ist. Ihn verstehe ich auch nicht, ich verstehe nicht, was er sagt, er beugt sich zu mir runter, lächelt und hält mir seine Hand ihn. Es bleibt mir nichts anderes übrig: Ich nehme seine Hand, die warm und knochig ist, und folge ihm, in den Aufzug und dann durch einen großen Raum mit kaltem Boden an einen hell erleuchteten Tresen. Dort setzt er mich auf einen Stuhl, der sich leicht hin und her dreht, sobald ich mich bewege, und ich bekomme eine Fanta. In der Flasche steckt ein rosa Halm, durch den ich das süße Getränk trinke. Danach sind wir wieder im Hotelzimmer, wie wir da hingekommen sind, daran erinnere ich mich nicht, und der Mann liest mir aus einem Buch etwas vor. Ich mag den Singsang seines Erzählens, seine Zunge stößt an seine Zähne, und die dunklen Laute zieht er in die Länge. Ich liege auf dem großen Bett, in dem ihr eigentlich schlaft, auf deiner Seite, Papa, in deinem Geruch. Ich liege auf dem Bauch, das Gesicht seitlich auf dem Laken, die zerwühlte Decke hat der Mann über mich ausgebreitet und glatt gestrichen, ich sehe ihn an, er sitzt an der Bettkante, seine Hand ist meinem Gesicht sehr nahe, der kleine Finger zuckt manchmal auf, und ich höre ihm zu, seiner Zaubersprache. Er bleibt, bis ein Schlüssel im Schloss zu hören ist, ihr das Zimmer aufschließt. Draußen dämmert es. Ihr schämt euch und redet durcheinander, du willst ihm Geld geben, der Mann macht einen Schritt zurück und wedelt mit der Hand, nimmt es schließlich doch.

Ich möchte nicht vergessen. Für mein Kind. Dass es kein zeitliches Kontinuum gibt. Dass alles jetzt ist und nie anders. Ihr seid weg. Jetzt für immer. Ich verliere euch. Immer wieder zum ersten Mal. Ich kenne es schon. Das macht es nicht leichter heute. Auch nicht einfacher.

»Aber du kommst doch wieder«, sagt eine andere Mutter zu mir, als mein Kind weint, im Kindergarten, ich im Treppenhaus, hinter der bereits geschlossenen Tür, hinter der bereits von mir geschlossenen Tür.

»Aber das fühlt es nicht«, hätte ich sagen sollen.

Ich habe nicht vergessen, aber ich habe nicht verstanden.

Ist es ebenfalls dieser Urlaub, dieses Bett? Nein, es ist ein anderer Urlaub, das Bett, in dem ich nun liege, steht anders, gegenüber ist eine Tür offen, dahinter das Badezimmer. Ihr habt darin Licht brennen lassen für mich und die Tür angelehnt, ein helles Trapez fällt auf den Teppich vor dem Bett. Diffus weiß ich, dass ihr irgendwo im Hotel seid. Eindeutig weiß ich, dass ich euch nie finden würde. Ich bin zu klein, ich erfasse das Hotel in seiner räumlichen Struktur nicht. Ich liege also in dem Bett, gegenüber vom Badezimmer, nur ein weißes Laken deckt mich zu, und ich weine. Ich strample das Laken von mir und ziehe es wieder heran. Und dann kommt Mama doch. Im Badezimmer zieht sie Lippenstift nach, ich sehe, wie sie den Mund formt und die Farbe aufträgt, anschließend die Lippen aufeinanderdrückt.

Sie sagt: »Wir sind nur unten im Hotel und schauen uns eine Show an.«

Sie setzt sich an mein Bett und berührt mich am Arm. »Musst nicht weinen, wir sind nicht weit weg. Andere Kinder schlafen jetzt auch.«

Mama gibt mir einen Kuss und steht auf, die Tür fällt wieder ins Schloss. Ich weine die ganze Zeit.

Es gibt ein Foto von mir aus diesem Urlaub, in diesem Bett. Ich bin braun gebrannt, meine Haare sind hell von der Sonne und dem Salzwasser, und ich liege nur mit einem weißen Unterhemd und einer weißen, kurzen Hose dort und lache, lache richtig schön und glücklich.

Deckard, der Replikantenjäger aus Blade Runner, betrachtet Fotos aus seiner Kindheit, die Begegnung mit Rachael hat ihn irritiert, hat einen Zweifel in ihm genährt. Mit einer Maschine, Esper Photo Analysis genannt, vergrößert er eines dieser Fotos, die Maschine piept und klackt, der Bildschirm zeigt den ausgewählten Ausschnitt. In einem Spiegel auf dem Foto entdeckt Deckard schuppige Strukturen, so wie Replikanten sie aufweisen, noch tiefer im Bild, fast wie hinter einem Gegenstand versteckt, eine schlafende Frau, auch ihre Haut hat in der Vergrößerung eine grobe Struktur.

Ich träume manchmal, dass ich das Kind zurücklasse, dass der Weg zurück versperrt ist, dass andere, denen ich es anvertraue, nicht auf es achtgeben. Ich rätsele, warum, warum bin ich losgegangen. Dann wache ich auf und weiß es, es ist so banal: aus Pragmatismus. Im Übergang zum Wachwerden fühle, denke, fühle ich den Gedanken, den Mama gedacht haben muss: weil es so praktisch ist. Weil es so praktisch ist, einkaufen zu gehen, rasch einkaufen zu gehen, während ich schlafe.

Ich wache auf, liege im Wohnzimmer auf dem Boden, wenn ich den Kopf nach hinten recke, sehe ich die runden Blätter der Zimmerpflanze, unter die ich mich gerne lege, weil sie so vollkommen sind. Mama ist nicht da, ich laufe umher, alles ist unbelebt und furchterregend, wenn Mama nicht da ist. Ich weine, gehe ins Treppenhaus, immer verlasse ich irgendwelche Räume, in denen ihr nicht seid, die Katze entwischt. Die Nachbarin von gegenüber kommt auch ins Treppenhaus und scheucht mit dem Türvorleger die Katze wieder in die Wohnung. Sie bleibt bei mir, bis Mama mit vollen Einkaufstaschen wiederkommt.

Immer sind es Fremde, die mir helfen. Auch am Telefon. Einmal rufe ich Omi an, ich bin allein in der Wohnung, die Nummer liegt neben dem Telefon, Mama hat sie aufgeschrieben, aber ich verwähle mich und weine, und eine Frau am anderen Ende der Leitung tröstet mich.

Ein anderes Mal malt Mama mir die Uhr auf. Wenn die Uhr auf dem Bild so aussieht wie die echte Uhr, dann ist sie zurück. Ich sitze davor, am Tisch, die gemalte Uhr und die echte vor mir. Ich fange an zu weinen, als der große Zeiger endlich oben angekommen ist. Denn Mama kommt nicht. Obwohl der Zeiger doch oben ist, wie auf dem Bild, über oben hinaus wandert und sich schon wieder nach unten bewegt. Ich habe den kleinen Zeiger nicht beachtet. Der war noch auf der Acht, nicht auf der Neun. Mama erklärt es mir. Eine Stunde später.

Als Kind ist mir immer kalt beim Aufwachen. Deshalb versuche ich, ohne Bettdecke zu schlafen. Ich glaube, mich so an die Kälte gewöhnen zu können.

»Allen Menschen ist am Morgen kalt«, sagt Mama.

Erst viel später weiß ich, dass das nicht stimmt. Dass einem auch warm sein kann im Bett. Erst viel später weiß ich, dass man sich an Kälte nicht gewöhnen kann. Und noch viel später schenkt Mama mir zum Geburtstag eine zwei mal zwei Meter große Decke mit Gänseflaum. Es ist eines der schönsten Geschenke, die ich von ihr habe. Ich decke das Kind und mich damit zu.

»Sterbst du bald?«, fragt mich das Kind.

»Nein«, sage ich, »ich lebe noch ganz lange. Da bist du schon groß und hast vielleicht auch schon ein Kind.«

»Echt?«, fragt das Kind.

Ich lasse mein Kind nicht allein. Und doch ist sein Verhalten geprägt von Verlust. Es folgt mir überallhin, beendet jedes Spielen, sobald ich ins Badezimmer gehe, spielt dort weiter, mit dem Bändel meines Bademantels zum Beispiel, es hält mich fest, morgens im Bett, als ginge ich nicht in die Küche und machte Müsli, sondern als verließe ich die Wohnung, es weint, wenn ich ins Wasser gehe und ein paar Schwimmzüge machen möchte, ...

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