Demenz in der Familie - Validation für Angehörige

Demenz in der Familie - Validation für Angehörige

von: Vicki de Klerk-Rubin

ERNST REINHARDT VERLAG, 2022

ISBN: 9783497615797

Sprache: Deutsch

127 Seiten, Download: 824 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Demenz in der Familie - Validation für Angehörige



■ Teil I
Was geschieht mit verwirrten hochbetagten Menschen?

Alzheimer-Demenz und Desorientierung: Was verbirgt sich hinter einem Wort?

Auch ohne Blick auf die Statistiken ist wohl allen klar, dass die steigende Zahl alter Menschen, die an irgendeiner Form von Demenz leiden, eine der größten Herausforderungen des Gesundheitssystems darstellt. Wir werden nicht nur älter als je zuvor in der Geschichte, auch der Anteil der über 65-Jährigen hat sich erhöht. Vor nur 50 Jahren lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei 70,6 Jahren, heute beträgt sie 81 Jahre (World Bank). Dieser Anstieg ist vor allem der verbesserten und besser zugänglichen medizinischen Versorgung zu verdanken, dem Fortschritt in der Medizintechnik und der gesünderen Lebensführung vieler Menschen. Noch im Jahr 1950 waren Tuberkulose und „Altersschwäche“ recht häufige Todesursachen. Heute tauchen diese Begriffe nicht mehr auf. Unsere Gesellschaft weist eine neue, bedeutende Bevölkerungsgruppe auf, nämlich die über 80-Jährigen. In allen gesellschaftlichen Bereichen mehren sich die Anzeichen, dass es uns schwer fällt, die besonderen Bedürfnisse der Menschen in diesem Lebensabschnitt zu verstehen und zu befriedigen.

Mit dieser Veränderung in der Bevölkerungsstruktur geht eine Steigerung der Zahl derer einher, die an einer Form der Alzheimer-Demenz erkranken. In Deutschland haben heute ca. 1.5 Millionen Personen eine durch die Alzheimer-Krankheit ausgelöste Demenz, wobei von einer Verdoppelung dieser Zahl in den kommenden 50 Jahren ausgegangen wird (Alzheimer Gesellschaft). Ich fand keine Angaben über die Zahl der Menschen, bei welchen Alzheimer-Demenz diagnostiziert wurde, aus der Zeit vor 1990, weil diese Diagnose damals offiziell nicht gestellt wurde. Was bedeutet das? Heißt es, dass sich die Erkrankung ausbreitet, dass einfach mehr Menschen an der Alzheimer-Krankheit leiden? Könnte es sein, dass diese Diagnose aufgrund neuer medizintechnischer Möglichkeiten leichter zu erhärten ist und deshalb mehr Menschen korrekt diagnostiziert werden, oder hat sich der Begriff „Alzheimer-Krankheit“ verändert, weshalb inzwischen mehr Menschen mit ähnlichen Symptomen in diese diagnostische Kategorie passen?

Mit 51 Jahren fing Frau D. an, Dinge des Alltagslebens zu vergessen. Zudem verdächtigte sie ihren Mann, Affären zu haben, und wurde extrem eifersüchtig. Obwohl er ihr tatsächlich keinerlei Anlass gab, machte sie ihm wütende Vorwürfe. Sie verirrte sich in der eigenen Wohnung, trug ohne erkennbaren Sinn Sachen hin und her und versteckte sie. Manchmal dachte sie, dass sie ermordet würde, und fing an zu schreien. Daraufhin wurde sie in eine entsprechende Institution eingewiesen. Dort änderte sich ihr Verhalten; sie wurde zunehmend hilflos sowie zeitlich und örtlich desorientiert. Sie trug Teile des Bettzeugs mit sich herum, rief nach ihrem Mann und ihrer Tochter und hatte akustische Halluzinationen. Ihr Zustand verschlechterte sich kontinuierlich, bis sie nach viereinhalb Jahren starb. Am Ende ihres Lebens lag sie in fötaler Haltung da, war völlig in sich gekehrt und reagierte nicht mehr auf ihre Umgebung. Sie starb im Alter von 55 Jahren. Das geschah vor 100 Jahren.

Alois Alzheimer war ein deutscher Pathologe, geboren 1864 in Marktbreit in Bayern. Er arbeitete in dem Krankenhaus, in welchem Frau D. ihre letzten Jahre verbrachte, und entwickelte dort neue Hilfsmittel und Techniken zur Untersuchung von Gehirnzellen. Sein Ziel: Er wollte herausfinden, welche abnormen Strukturen im Gehirn mit verschiedenen neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen korrelieren. Zusammen mit seinen Kollegen Franz Nissl und Emil Kraepelin publizierte er eine sechsbändige Enzyklopädie, die „Histologischen und histopathologischen Arbeiten über die Großhirnrinde“. Im Jahr 1906 präsentierte Dr. Alzheimer erstmals seine Forschungsarbeiten zu der Krankheit, die schließlich nach ihm benannt wurde (Alzheimer/Nissl). Alzheimer führte bei Frau D. eine Autopsie durch und entdeckte Folgendes: Das Gehirn von Frau D. wies „auffällige Veränderungen der Filamente (Teile der Nervenzellen des Gehirns) und eine eigenartige Substanz in der Hirnrinde auf. An Stelle normaler Zellen lagen eine oder mehrere Fibrillen, die durch ihre Dicke und Färbbarkeit auffielen... Der Kern und die Zelle waren desintegriert, weshalb nur eine Fibrillenmasse die Stelle der Ganglionzelle anzeigte... Das ganze Gehirn, insbesondere jedoch die oberen Schichten, war von miliären (hirsekornähnlichen) Zentren bedeckt, die von einer ungewöhnlichen Substanz gebildet wurden... Die Gliazellen waren fibrös und viele Gliazellen wiesen Fettablagerungen auf... wir hatten es offensichtlich mit einer bislang nicht identifizierten Krankheit zu tun.“ (Alzheimer 1907) Die Fettablagerungen wurden später „Plaques“ genannt, die Verfilzungen „Alzheimer-Degenerationsfibrillen“. Das sind die organischen Leitsymptome der Alzheimer-Krankheit.

Abbildung 1:
Alois Alzheimer (1864 1915)

In Abbildung 2 ist eine gesunde Nervenzelle des Gehirns abgebildet und eine Nervenzelle mit „Alzheimer-Plaques und Alzheimer-Degenerationsfibrillen“. Das Gehirn besteht aus Nervenzellen (Neuronen), die alles regulieren was wir tun, angefangen von den wichtigsten Körperfunktionen (Atem, Herzschlag, Stoffwechselfunktionen), unseren automatischen Reaktionen (Lidschlag), bis zu unserem bewusst gesteuerten Verhalten (in ein Geschäft gehen, um eine Zeitung zu kaufen).

Abbildung 2:
Gesunde Nervenzelle und Nervenzelle mit Alzheimer-Plaques und Alzheimer-Degenerationsfibrillen (The Alzheimer’s Disease Education and Referral Center, a service of the National Institute of Aging, U. S. A.)

Hundert Jahre nach Alois Alzheimers erster Publikation seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse ist der Krankheitsprozess besser erforscht und dokumentiert. Es tut sich auf diesem Gebiet sehr viel; regelmäßig werden neue Informationen veröffentlicht. Es ist jedoch nicht Ziel dieses Buchs, die Leserschaft mit theoretischen Informationen über die Alzheimer-Krankheit zu versorgen. Diese Informationen können einer Reihe von Quellen entnommen werden, die im Anhang aufgelistet sind. Wenig Fortschritte gab es allerdings im diagnostischen Prozess. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der UCLA (University of California in Los Angeles) haben im Jahr 2001 durch Einsatz eines neuen chemischen Markers, des FDDNP genannten „Suchmoleküls“, eine Methode zur Identifizierung der sogenannten „Alzheimer-Plaques“ oder amyloiden Plaques entwickelt. Das künstliche, radioaktiv markierte Molekül setzt sich an den Plaques ab und ist dann bei der PET (Positronen-Emissionstomographie) zu erkennen. Dieses Verfahren könnte sich künftig als wichtiges diagnostisches Instrument erweisen. Es gibt aber auch Überraschungsbefunde. Wissenschaftliche Studien haben ergeben, dass manche Menschen, die bis zu ihrem Tod voll orientiert waren, bei der Autopsie erhebliche Gehirnschädigungen aufwiesen, das Gehirn anderer, gänzlich desorientierter Menschen dagegen relativ geringe Schäden hatte. Offenbar spielen noch andere Faktoren eine Rolle, die mitbestimmen, ob eine Person im höheren Lebensalter desorientiert wird.

Damit kommen wir zur nächsten Frage: Was ist die Alzheimer-Krankheit und wie wird der Begriff verwendet? Oft werden sämtliche Personen, die an irgendeiner Form von Demenz leiden, unterschiedslos als „Alzheimer-Kranke“ bezeichnet. Doch auch mit dem Wort Demenz wird ein übergeordneter Sachverhalt beschrieben, ein Syndrom, also eine Reihe von Symptomen. Die meisten Psychiatrielehrbücher definieren Demenz als organisch bedingten, chronischen, fortschreitenden Verlust kognitiver Funktionen. Gedächtnis, Denken, Orientierung sind offensichtlich beeinträchtigt, ebenso die Fähigkeit, zu verstehen, zu rechnen, zu lernen, zu sprechen und zu urteilen. Es ist wichtig zu wissen, dass zwischen Demenz und Delirium ein gewaltiger Unterschied besteht. Obwohl er häufig mit dem Missbrauch von Alkohol in Verbindung gebracht wird, bezeichnet der Begriff Delirium den Verlust kognitiver Funktionen (aller oben genannten) über einen kurzen Zeitraum hinweg. Den Unterschied zwischen Demenz und Delirium zu kennen ist von Belang, weil manchmal Fehldiagnosen gestellt werden. Tritt beispielsweise bei einem hochbetagten Menschen ein medizinischer Notfall ein, etwa ein Hüftbruch, wird er ins Krankenhaus gebracht, wo er möglicherweise desorientiert wird. Um eine Demenz diagnostizieren zu können, muss geklärt sein, ob das desorientierte Verhalten bereits vor dem Unfall vorhanden war oder nicht. Wenn Menschen mit einer traumatischen Situation konfrontiert sind, werden sie nicht selten verwirrt, erregt, emotional überdreht oder depressiv. Das ist eine Reaktion auf ein...

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