Es ist einmal - Ostdeutsche Großeltern und ihre Enkel im Gespräch

Es ist einmal - Ostdeutsche Großeltern und ihre Enkel im Gespräch

von: Sabine Michel, Dörte Grimm

BeBra Verlag, 2024

ISBN: 9783839301746

Sprache: Deutsch

200 Seiten, Download: 2421 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Es ist einmal - Ostdeutsche Großeltern und ihre Enkel im Gespräch



»Und eine innere Heimat?«


Carla (*2002) und Elisabeth (*1944)


Sabine Michel

 

Es ist ein heller Tag im Frühsommer. Ich steige aus der Berliner S-Bahn aus. Wie befreit liegt die Stadt nach dem zweiten Winter mit Corona. Ich laufe zu drei neuen Gebäuden einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft hinüber. Die alten großen Bäume stehen noch, alles sieht freundlich und gepflegt aus. Die achtundsiebzigjährige Elisabeth ist vor kurzem aus Bautzen hierhergezogen. Nachdem sie seit Ende der 1960er Jahre dort in immer wechselnden DDR-Neubauwohnungen gelebt hatte, zog sie in die kleine, schöne Wohnung mitten im östlichen Berliner Stadtzentrum, nahe der Familie ihrer Tochter Maxie und ihrer Enkelin Carla. Die rüstige, alleinstehende Rentnerin mit den schulterlangen weißen Haaren trägt ein weites, langes Kleid und zwei Armbänder. So wie es in dem Sommer auch die jungen Frauen tragen. Ihre Füße sind nackt, die Fußnägel lackiert. Das Wohnzimmer hat ein großes Fenster zum Balkon, davor ein kleiner Spielplatz mit Holzgerüsten für Kinder. Sie schenkt Tee in Keramikschalen ein, die Tulpen auf dem Tisch stehen in üppiger Pracht.

Carla kommt mit einem Rollkoffer und einem Rucksack direkt vom Flughafen. Sie stöhnt laut auf und wirft alles von sich. Sie umarmt ihre Oma. Schnell noch ein Blick aufs Handy, dann begutachtet Carla die Veränderungen in Omas neuer Wohnung. Die Neunzehnjährige hat letztes Jahr einen der besten Abiturabschlüsse ihres Jahrgangs gemacht und war Schulsprecherin. Gerade absolviert Carla ein Praktikum an einer Deutschen Schule in Spanien. Die junge Frau hat lockige Haare und ein ansteckendes Lachen.

 

Schließlich sitzen sie sich am Esstisch gegenüber. Carla stellt ihr Handy leise, jetzt hat auch Elisabeth ihr Handy in der Hand. Sie deutet auf die Corona-Warn App.

»Ich bin wieder rot.«

»Ist gar nicht wichtig, Oma. Du bist doch jetzt geimpft«.

»Ja, ich hatte viel Glück, auch weil ich, bevor der erste Lockdown losging, von deiner Mama das Angebot bekam, zu euch nach Berlin zu kommen. Ich hatte zwei Stunden Zeit zu überlegen, was ich mitnehme. Ich wusste nicht, ob es vier Wochen werden oder sechs.«

»Wie lange warst du insgesamt bei uns in Corona-Zeiten?«

Elisabeth überlegt: »Fünfzehn Wochen? Ja, das war schon eine lange Zeit. Es war nicht immer leicht, weil viele Personen so unterschiedlichen Alters in einer Wohnung waren. Aber wäre ich zu Hause geblieben, wäre ich einkaufen gegangen und sonst wäre ich allein geblieben, sehr lange.«

»Für mich war es gemischt. Ich bin weniger in die Schule gegangen, das war anstrengend, aber ich habe bessere Leistungen erzielt. Eigentlich war es für Corona ganz in Ordnung. Jedoch im Nachhinein, diese ganze Vorsicht. In Spanien habe ich allein viel mehr Freiheit. Ich mache alles, wie ich will. Ich gehe mich ab und zu testen, aber wenn ich feiern gehen will, dann gehe ich feiern.«

Mit einem Blick auf Elisabeth fährt Carla fort:

»Aber keine Sorge, Oma, ich habe mich getestet.«

Man sieht Elisabeth die Erleichterung an, obwohl sie versucht, es sich nicht anmerken zu lassen. Schnell redet sie weiter.

»Ja, bei dir kann man schon sagen, dass du dein Jugendleben in den zwei Jahren hinter das Interesse deiner Oma und deiner Mama, wir sind beide Risikogruppe, gestellt hast. Das war toll.«

 

Elisabeths Tochter Maxie, Carlas Mutter, ist Journalistin und lebt mit ihrem Mann, einem Buchautor, nicht weit von Elisabeth in Berlin-Mitte. Sie haben vor fünfzehn Jahren geheiratet und eine gemeinsame Tochter, Ella. Carla ist Maxies Tochter aus einer langjährigen Beziehung mit einem spanischen Kameramann. Die beiden trennten sich fünf Jahre nach Carlas Geburt. Elisabeth hörte damals früher auf zu arbeiten und unterstützt seitdem ihre Tochter sehr, ihren Beruf und die Kinder gut zu vereinbaren. Auch Maxies Mann hat noch zwei Kinder aus einer anderen Beziehung. Beide studieren in anderen Städten. Über die Jahre ist die Patchwork-Familie eng zusammengewachsen. Carla und ihre beiden großen Halbgeschwister haben längst mehr Geheimnisse miteinander als mit ihren Eltern; Ella, die Jüngste liebt ihre drei Geschwister. Während des ersten Lockdowns hatte Maxie ihre Mutter aus Bautzen zu sich nach Berlin geholt. Sie haben zu fünft, gemeinsam mit Elisabeth, fast vier Monate in ihrer großen Dreiraumwohnung gelebt.

 

Carla nickt. »Das mit unserer Familie war schon auch cool. Wir haben viel gekocht und gebastelt. Ich kriege manchmal so Rückblicke mit Bildern auf meinem Handy, die ich vor zwei Jahren gemacht habe – und da ist es immer sonnig. Es war trotzdem eng zu Hause.«

An Elisabeths Wänden hängen viele Fotos und Zeichnungen der Enkelinnen, Postkarten aus Urlauben und kleine Zettel mit Nachrichten. Man merkt, wie wichtig ihr Familie ist. Sie kommt ins Schwärmen.

»Wir hatten so viel Zeit miteinander: wie ich mit Ella draußen sitze oder wie Geburtstag gefeiert wird. Wie du da die Kinder bespielt hast und was alles gekocht und gebacken wurde …«

Carlas Erinnerungen an den ersten Lockdown sind viel ambivalenter. Sie unterbricht ihre Oma.

»Aber man wusste überhaupt nicht, worauf es hinausläuft, das war schrecklich. Hat dich das nicht manchmal auch an die Zeit des Mauerfalls erinnert, da wusste man doch auch nicht, worauf es hinausläuft?«

Elisabeth ist überrascht von Carlas Frage, vielleicht meint sie den Einfluss ihrer Tochter hinter der Frage zu hören. Carlas Mutter setzt sich in vielen journalistischen Texten mit der Zeit des Mauerfalls und der Wiedervereinigung auseinander. Elisabeth hätte lieber noch weiter über ihre schönen Erinnerungen an den ersten Lockdown gesprochen. Ihr bisher offener Blick geht nach innen; es wirkt, als ob sie sich nicht einfach erinnert, sondern die Zeit wie Schichten wegschaufeln müsste.

»Die Umwälzungen damals liefen bei mir parallel zu meinem Ehe-Crash.«

Carla versteht das Wort »Crash« in dem Zusammenhang nicht. Sie schaut ihre Oma fragend an.

Die fährt fort: »Meine Scheidung! Da habe ich mich mit persönlichen Problemen beschäftigt und die gesellschaftlichen Ereignisse liefen parallel. Vielleicht denke ich deshalb nicht so oft zurück, weil das eine Zeit war, wo ich nicht wusste, wie ich das privat alles bewältige und in die Reihe kriege.«

 

Laut Statistik wurden Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre viele Ehen im Osten des Landes, parallel zu den großen gesellschaftlichen Veränderungen, getrennt. Elisabeth und ihr Mann sind nach sechsundzwanzig Jahren eine davon. Carla weiß wenig von dieser Geschichte. Seit sie Oma und Opa kennt, leben die getrennt. Anfänglich nimmt sie das als normal hin, zumal auch ihre Eltern getrennt leben. Später begreift sie, dass das nicht in allen Familien so ist. Zunehmend fragt sie sich auch nach dem Einfluss des Politischen auf das Private.

»Ich weiß immer noch wenig von all dem. Die politischen Fragen haben für mich in Sozialkunde angefangen: ›Wieso ist Demokratie so schwierig?‹ Damals gewann die AfD großen Zuspruch und da hat sich gezeigt, dass Teile des Ostens anscheinend einen Mangel verspüren – und das hat mich interessiert. Dass es einen Unterschied macht, ob ein Samen gepflanzt wird und die Erde guten Humus, Regen und Sonne hat, oder ob der Samen in eher trockene Erde gepackt wird.«

Elisabeth schenkt Carla Tee nach, bläst die Kerze im Stövchen aus. Gerade hat man noch die Geräusche vom nahen Spielplatz durch die offene Balkontür gehört, jetzt ist es still. Elisabeth streicht über den Tisch. Als Carla sie erwartungsvoll anschaut, antwortet sie leise seufzend.

»In meiner Familie gab es immer eher trockene Erde, um in deinem Bild zu bleiben. Meine Mutter, Gertrud, ist mit ihren Eltern aus Hessen nach Thüringen gekommen. Gertrud war die Älteste mit zwei Brüdern. Der Vater meiner Mutter ist später im Ersten Weltkrieg gefallen und meine Großmutter hat nochmal geheiratet und einen dritten Sohn bekommen.«

 

Gertrud konnte als junge Frau keinen Beruf lernen, sie musste ihre kränkliche Mutter im Haushalt und mit den drei kleinen Brüdern unterstützen. Später arbeitet sie ungelernt in einer Lebkuchenfabrik. Abends riecht sie süß nach Gewürzen. Mit ihren selbstgenähten Kleidern sieht sie schick aus. Als sie ihren späteren Mann Ernst, Elisabeths Vater, kennenlernt, ist sie seinen Eltern als Zugereiste nicht gut genug. Doch Gertrud und Ernst heiraten noch vor Kriegsanfang. 1939 ging der Zweite Weltkrieg los.

Carla hört Elisabeth zu, ihren Kopf auf die Hand gestützt. Ihr Blick geht ins Unkonkrete. Sie war am Morgen in Spanien losgeflogen und ist nun im Gespräch mit ihrer Oma im Zweiten Weltkrieg angekommen.

»Mein Vater«, sagt Elisabeth, »musste nicht in den Krieg, weil seine Arbeit kriegswichtig war, das war sicher schön für meine Mutter. Als er jedoch Mitglied der NSDAP wurde, gab es Streit zwischen meinen Eltern, meine Mutter war strikt dagegen. Doch sein Schwager war auch in der Partei. Die...

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