Trennung, Tod und Trauer - Geschichten zum Verlusterleben und dessen Transformation

Trennung, Tod und Trauer - Geschichten zum Verlusterleben und dessen Transformation

von: Hansjörg Znoj

Hogrefe AG, 2015

ISBN: 9783456755731

Sprache: Deutsch

316 Seiten, Download: 5488 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Trennung, Tod und Trauer - Geschichten zum Verlusterleben und dessen Transformation



1 Einleitung und Übersicht


1.1 Worüber sprechen wir?


Einen nahestehenden Menschen zu verlieren, sei es durch eine endgültige Trennung, den Tod oder durch geistigen und seelischen Zerfall, verursacht durch eine Demenz, kann nicht nur unmittelbar Veränderungen im Erleben bewirken, sondern langfristig das ganze Leben verändern. Für den Umgang mit persönlichen Verlusten brauchen wir den Begriff «Trauer». Wir trauern offensichtlich um viele Dinge, denn der Begriff wird auch beim Verlust von Fähigkeiten oder Eigenschaften verwendet, etwa bei der Einbuße eines Teils unserer Fähigkeiten oder wenn wir durch einen Unfall behindert werden. Manchmal trauern wir auch um verpasste Gelegenheiten oder um Dinge, die uns ans Herz gewachsen sind, wie etwa ein gestohlenes Lieblingsfahrrad oder eine zerbrochene Vase. Aber sind dies wirklich dieselben Prozesse? Und was bedeutet überhaupt «trauern» oder «sich in Trauer befinden»? Genau darum geht es hier: um ein vertieftes Verständnis dessen, was wir allgemein unter Trauer verstehen oder was wir meinen, tun zu müssen, wenn wir einen Verlust erlitten haben. Vorweggenommen sei, dass in diesem Buch nicht hauptsächlich alltägliche Verluste behandelt werden, sondern soziale Verluste von hoher Relevanz für das eigene Selbstverständnis und für die Art und Weise, wie wir die Welt begreifen. Soziale Verluste können traumatische Folgen haben, unabhängig davon, ob die nicht mehr in meinem Leben existierende Person noch lebt oder gestorben ist. Sie haben ähnliche Auswirkungen, weil es in beiden Fällen darum geht, sich von jemandem zu trennen, der oder die ein Teil des eigenen Lebens geworden ist. Und beide Arten von Trennungen fordern uns zu ihrer Bewältigung trotz unterschiedlicher Aspekte und Konsequenzen viel Energie ab. Es ist ein Thema, das Menschen umtreibt und jede Beziehung birgt auch die Gefahr, verloren zu gehen.

Tatsächlich geht es in der Geschichte der Menschheit vielfach um Verluste, sowohl von Personen, die für ganze Völker und Nationen von hoher Bedeutung waren, als auch von Territorien und damit Entwicklungsmöglichkeiten. Darüber sowie über Abschiedszeremonien in verschiedenen Kulturen und deren Bedeutung wird in diesem Buch jedoch nicht geschrieben. Hingegen wird an geeigneter Stelle durchaus auf die Bedeutung von Zeremonien und Ritualen hingewiesen. Ein weiterer Kernpunkt ist vielmehr die zentrale Frage nach einer übergreifenden Psychologie des Verlusterlebens. Wie wirken sich Verluste auf die Seele aus, wenn wir unter Seele das Zusammenwirken geistiger und körperlicher Prozessen oder, präziser, die sinnstiftende Einheit eines lebenden, informationsverarbeitenden und bewusstseinsfähigen Systems verstehen.

1.2 Die soziale Amputation


Gehen wir davon aus, dass Menschen enge Verbindungen miteinander eingehen und als von anderen abhängige Lebewesen in die Welt gesetzt werden, so bedeuten Trennungen mitunter den Verlust der eigenen Lebensfähigkeit, sofern diese Abhängigkeit voneinander durch einseitige Ressourcenverteilung geprägt ist. Derartige Verhältnisse sind allerdings nicht typisch für das Zusammenleben, im Gegenteil sind menschliche Beziehungen auf Gleichgewicht bedacht, auf ein Geben und Nehmen, das in verschiedenen sozialen Beziehungen deutlich wird. Der Arbeitnehmer bezieht ein Gehalt und gibt dafür Zeit und Leistung, ein Kind bezieht lebensnotwendige Ressourcen und gibt den Eltern dafür Lebensqualität, Sinn und ein erhöhtes Maß an Zusammengehörigkeit, was im hohen Alter unter Umständen auch eine Versicherung bedeuten kann. Dieses soziale Gefüge gerät durch den Verlust eines Angehörigen aus dem Gleichgewicht und muss in einem Anpassungsprozess neu gefunden werden. Dies ist bewusst abstrakt formuliert, weil es darum geht, eine Sprache und damit ein Verständnis für Verluste zu finden, das nicht schon durch Begriffe wie «trauern» scheinbar erklärt ist. Der Verlust einer nahestehenden Person löst nicht nur individuell, sondern auch im weiteren sozialen Umfeld eine Erschütterung aus die einerseits als Bruch und als Wegfall wichtiger Ressourcen wahrgenommen wird. Andererseits ergeben sich durch die Auflösung eines bisher stabilen Kräftegleichgewichts für die verbliebenen Mitglieder des engsten sozialen Netzes, das gemeinhin als Familie bezeichnet wird, neue Möglichkeiten. Vorstellungen über den Begriff «Familie» können sehr unterschiedlich sein, hier sei lediglich festgestellt, dass darunter auch nichtverwandtschaftliche Beziehungen verstanden werden können. Der Begriff der Familie, wie ich ihn verwenden möchte, schließt nahe Freundschaften und Liebesbeziehungen ein, die nicht unbedingt von einer kulturellen Einrichtung sanktioniert wurden. Der Verlust einer Person in einem solchen Beziehungsnetzwerk kann als ein Mobile gedacht werden, in dem verschiedenste Akteure in einem komplizierten Gleichgewicht konzentrisch umeinander kreisen und in dem auf einmal ein zentraler Faden reißt und die verbliebenen Teile aus dem Rhythmus geraten: Nichts funktioniert mehr so, wie es zuvor scheinbar mühelos funktioniert hat. Diese Metapher ist nicht zu weit hergeholt, wenn man bedenkt, dass zum Beispiel der Tod eines gemeinsamen Kindes eine bislang wunderbar gelingende Beziehung auseinanderbringen kann oder dass sich eine Familie nach dem Tod des bisherigen Familienoberhauptes bis aufs Messer bekriegt. Umgekehrt kann der Verlust eines bisher dominierenden Mitglieds im Einzelnen ungeahnte Energien entfalten und individuelle Entwicklungen ermöglichen, die bislang im Geflecht der sozialen Beziehungen behindert wurden.

1.3 Risikofaktoren für die eigene Gesundheit


Der Tod eines Familienangehörigen gefährdet nicht nur das seelische Gleichgewicht, sondern kann gesundheitliche Auswirkungen auf vitale Organfunktionen haben. So ist beispielsweise das Phänomen, dass langjährig Verheiratete nach dem Tod eines Partners innerhalb von wenigen Wochen ebenfalls sterben, unter dem Begriff «broken heart» (dt.: gebrochenes Herz) in die Literatur eingegangen. Näheres dazu findet sich zum Beispiel bei Stroebe, Schut & Stroebe, 2007. Wie kann das sein? Es gibt verschiedene Erklärungen. So zeigte sich in vielen Untersuchungen, dass das Suizidrisiko vor allem bei Witwern nach dem Tod der langjährigen Partnerin erhöht ist. Auch wenn dieser Umstand berücksichtigt wird, bleibt für Hinterbliebene immer noch ein erheblich höheres Mortalitätsrisiko und das Risiko einer somatischen Erkrankung oder einer psychischen Störung ist deutlich erhöht. Der Verlust eines nahestehenden Menschen löst nicht nur eine soziale Störung aus, sondern bewirkt ein gestörtes inneres Gleichgewicht in dem ausbalancierten System verschiedener Prozesse und ihrer Komponenten, die unser Wohlbefinden regulieren. Dazu gehören unter anderem Hormone und Neurotransmitter, die wichtige organische Prozesse, wie die Regulierung des Blutdrucks und der Herzfrequenz, die Magen-Darm-Aktivität sowie den allgemeinen Schlaf-Wach-Rhythmus und grundlegende Funktionen des Immunsystems steuern. Diese Aufzählung ist selbstverständlich nicht vollständig, sondern soll nur verdeutlichen, wie stark soziale Wahrnehmungen und sozialer Stress die Befindlichkeit zu beeinflussen vermögen. Nicht immer lösen soziale Verluste Stressreaktionen aus. Es wäre auch vorstellbar, dass eine stressinduzierende Interaktion mit einem Partner wegfällt und ein Rückgang oder Wegfall der Stressfolgen zu erwarten ist. Dass dies nicht immer so ist, zeigt, wie komplex menschliche Beziehungsgeflechte sind und wie kompliziert daher die Reaktionen auf einen Verlust ausfallen können. Soziale Verluste stellen Stressoren dar, die im System Mensch zahlreiche Reaktionen auslösen, welche wir unter dem Begriff «Stressfolgen» subsumieren können. Der Weg einer Fehl- oder Überregulation des emotionalen Empfindens bis zur ernsthaften chronischen Erkrankung verläuft über verschiedene Stufen, wie Hall und Irwin (2001) hergeleitet haben. Je nach Kontext, wie zum Beispiel soziale und ökonomische Ressourcen, oder persönlichen Eigenschaften, wie Geschlecht, Alter oder biologisch-genetische Voraussetzungen, wird ein Verlust mehr oder weniger stark als Stressor empfunden. Dieser wahrgenommene Stress wiederum wird moderiert durch verschiedene als «Coping» bezeichnete Prozesse. Unter Coping versteht man seit Lazarus (1966) Anstrengungen, die ein Individuum unternimmt, um mit bestimmten Situationen klarzukommen. Sie sind nicht immer bewusst gesteuert, sondern beinhalten implizites Wissen über die Welt, das eigene Vermögen und Selbstkonzepte, die in das Handeln eingehen. Coping beinhaltet auch Verhalten und Denkprozesse, die für die Bewältigung eines Problems hinderlich sind, wie etwa selbstquälerisches Grübeln oder Selbstmedikation durch übermäßigen Alkoholkonsum. Coping ist also erst einmal ein wertfreier Begriff und sagt nichts über dessen Wirksamkeit in einer entsprechenden Situation aus. Später hat Lazarus (z.B. 1975) selbst das Gefühlserleben unter dem Aspekt des Copings betrachtet und die wichtige Aussage gemacht, dass Stress, aber auch die entsprechenden Gefühle immer als Wechselwirkung zwischen wahrgenommener Situation und den eigenen Fähigkeiten, mit ihr umzugehen, zu verstehen sind. Das ist wichtig, denn wie wir mit einem Verlust umgehen, bestimmt die psychischen und somatischen Folgen. So kann es zu emotionalen Störungen kommen, die wiederum das Schlafverhalten negativ beeinflussen. Angstwellen und andere als unkontrollierbar wahrgenommene Gefühlszustände können den Schlaf, aber auch die Appetitregulation und weitere gesundheitsrelevante Bereiche beeinträchtigen. Zusätzlich löst wahrgenommener Stress die Freisetzung von Stresshormonen und anderen Botenstoffen aus, die den Körper in ein...

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